Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

Fachinformation - geschrieben am 16.01.2023 - 12:07
Vielfalt - Inklusion

Inklusive Kinder- und Jugendhilfe! - Das nun inklusive SGB VIII (KJSG) soll behinderte[i] Kinder und Jugendliche stärken

Das KJSG[ii]: Von langer Hand geplant, disputiert und endlich im Juni 2021 beschlossen: Die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen [ist] umzusetzen und vorhandene Barrieren [sind] abzubauen (§9.4.).

Bislang gab es bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung eine (künstliche) Aufteilung hinsichtlich der möglichen Unterstützungsangebote. Für die einen war das Sozialgesetz der Eingliederungshilfe (SGB IX) und für die anderen das der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) zuständig. Daraus ergaben sich verschiedene Problemanzeigen sowie die Frage: Sind Kinder und Jugendliche mit Behinderung keine oder andere Kinder oder Jugendlichen? 

2017 trat das Bundesteilhabe-Gesetz (BTHG) in Kraft und in diesem Jahr soll die letzte Stufe umgesetzt werden. Parallel wurde das SGB VIII 2021 reformiert und inklusiv(-er) ausgerichtet. Unter anderem soll für alle Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre – mit oder ohne Behinderung – die Kinder- und Jugendhilfe, also das KJSG (SGB VIII) zuständig sein. Konkret heißt das, dass ab 2024 unter Mithilfe von Verfahrenslotsen, angesiedelt bei den kommunalen Jugendämtern (ASD) bis 2028 bundesweit ca. 360.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in das SGB VIII überführt werden. Was das konkret bedeutet, ist aber bislang nur teilweise geklärt.

Der Plan ist, dass mittelfristig die gesamte Kinder- und Jugendhilfe offen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gleichermaßen aufgestellt wird. Aktuell erreichen die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe nur begrenzt Menschen mit Behinderung.

Leider wurden auch in der SGB VIII-Novelle nicht in allen Paragrafen ein wechselseitiges Verständnis von Behinderung aufgenommen: Die Frage „Wer oder was behindert hier eigentlich wen?“[iii] wurde im § 35a SGB VIII beim alten Verständnis von Behinderung[iv] belassen. Und genau das ist das Problem der Kinder- und Jugendhilfe: Angebote und Institutionen sind häufig nicht für Jugendliche und Kinder mit Behinderung ausgerichtet. Andererseits kann/könnte das nicht-wechselseitige Verständnis aber auch bedeuten, dass sich die Gesetzgebenden nicht zur Gänze in der Pflicht sehen, Teilhabe für tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten - gegebenenfalls können Ansprüche durch diese Formulierung auch abgelehnt werden.

Dennoch stimmt die Richtung. Die Reform wird also nicht alleine eine Finanzierungsumschichtung sein. Davon abgesehen: Gesetzesformulierungen alleine werden ein ‚Inklusions-Mainstreaming‘ nicht bewirken. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen müssen auf allen Ebenen sichtbar werden: In Gesetzen, in wissenschaftlichen Analysen, im Supermarkt, in den Kommunen und in der Kinder- und Jugendarbeit - nur so werden diese auch mitgedacht. Dafür muss Segregation in allen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit aufgehoben und zukünftig verhindert werden. Personalschlüssel müssen dem realen Aufwand angepasst werden. Nicht zuletzt deshalb, da schon jetzt die Gruppe der Menschen mit Behinderung die vulnerabelste ist: Schutz vor Gewalt muss organisiert werden. Der § 8a IV SGB VIII beschreibt das besondere Schutzbedürfnis von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Menschen in der Eingliederungshilfe sind statistisch gesehen 2,8 bis 4,5 mal häufig Opfer von (sexualisierter) Gewalt[v]. Hier stehen die Kinder und Jugendarbeit und die Eingliederungshilfe vor großen Herausforderungen. Wie soll der Schutz organisiert und gewährleistet werden? Insoweit erfahrene Fachkräfte (ieFs: Kinderschutzfachkräfte) bekommen bislang in ihren Ausbildungen kaum Einblicke in das Arbeitsfeld mit behinderten Menschen. Ebenso sind Mitarbeiter*innen des Jugendamtes eher zufällig mit Besonderheiten bei Menschen mit Behinderungen vertraut.

In diesem Kontext kann auch nochmal grundsätzlicher überlegt werden, wie sich ‚Behinderung‘ gesellschaftlich konstituiert. Heike Raab[vi] weist schon 2012 darauf hin, dass mittels den Disability Studies gesellschaftliche Differenzverhältnisse und Ungleichheitsverhältnisse herausgearbeitet wurden. Raab stellt dabei verschiedene Thesen auf. Einer der Thesen soll hier näher betrachtet werden. Dies ist nicht ganz unwichtig, da bei der SGB VIII-Reform auf eine tradierte diskriminierende Form von Behinderung (siehe § 35a SGB VIII) nicht stringent verzichtet wurde. Der Hintergrund scheint – wie oben bereits formuliert – offensichtlich zu sein. Es stellt sich allerdings die Frage was diese eingeschränkte Teilhabe der Kinder und Jugendlichen in der weiteren Konsequenz mit sich bringt. Raab schreibt, dass ein substantiell, homogen und naturalistisch gefasster Behinderungsbegriff einem erweiterten, multiplen, transdisziplinären Behinderungsbegriff weichen sollte (vgl. Raab, H. 2012).

Menschen die nicht der Mehrheitsgesellschaft und damit nicht der Norm entsprechen, WERDEN behindert: durch die darin enthaltene Normalitätskonstruktion – in welcher Vielfalt wenig bis keine Berücksichtigung findet. So kann und wird zwischen Menschen die einerseits im Rahmen der Norm sind und jenen, die nicht der Norm entsprechen, differenziert. Dadurch sind zum einen Dichotomien wie „normal/a normal“ oder „behindert/nicht behindert“ weiterhin möglich, bzw. können nicht vermieden werden. Gleichzeitig entsteht das Bild ‚WIR und DIE ANDEREN‘. Paul Mecheril und Maria do Mar Castro Varela sprechen im Rahmen einer anderen Differenzkategorie hier von ‚Othering‘[vii]. Menschen werden zu ‚den Anderen‘ gemacht. In dessen Konsequenz wird Teilhabe eingeschränkt und die ANDEREN Menschen sind nicht oder nur zum Teil zugehörig. Ungleichheiten oder Diskriminierungen werden gesellschaftlich und eben auch in der Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen der ‚Normalitätsdebatte‘ in Kauf genommen. Letztlich wird über die Exklusion (den Ausschluss) hinweggesehen sowie Begründungen und Rechtfertigungen für die unterschiedliche Bewertungen herangezogen.

Menschen mit Behinderungen können über die Eingliederungshilfe für viele Lebensbereiche entsprechende (finanzielle) Unterstützungen erhalten. Da die freie Wirtschaft zu wenig Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zur Verfügung stellt, entlohnen die extra geschaffenen für den Staat kostenintensiven Arbeitsplätze (z.B. Werkstätten für Behinderte) die Arbeitenden eher symbolisch als real angemessen. Auch ist es Menschen, die über die Eingliederungshilfe unterstützt werden nur möglich ein Vermögen bis zu 50.000 € anzusparen. Das diese Regelungen ein selbstbestimmtes Leben sehr schwer machen oder verunmöglichen und konkret Ehen und Lebensgemeinschaften zwischen Menschen mit und ohne Behinderung verhindert, da weitere Gelder von der Eingliederungshilfe - gesetzlich vorgeschrieben - eingezogen werden müssen, sind Menschen von der aktiven Daseinsvorsorge exkludiert. Politisch wird dies nicht als Diskriminierung oder Ausschluss, sondern als zu akzeptierende Folge des Eingliederungssystems verstanden. Wichtige Fakten der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit von Menschen, wie z.B. die eigene Daseinsvorsorge, bleiben außen vor. Dies trägt aber eben auch das tradierte Bild, dass Menschen mit Behinderung keine selbstbestimmten Beziehungen zu leben brauchen, mit sich. Ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität kann nicht verwirklicht werden und die Idee eine eigene Familie zu gründen (mit oder ohne Assistenz) ist faktisch nicht möglich. Darüber hinaus führt das Tabuisieren der genannten Themen zu weiteren Einschränkungen in den Bildungsangeboten. Das Recht auf sexuelle Bildung kommt bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nur sehr eingeschränkt, nicht selten ungenügend an. Was schließlich die Chance auf eine gelingende und kompetent geführte Freundschaft, Partner*innenschaft und Sexualität erheblich  erschwert oder verhindert. Sich kein gelingendes Bild (begleitet) erarbeiten zu können, kann zu Grenzverletzungen und Übergriffen führen. Und erklärt neben dem massiven Personalmangel in der Eingliederungshilfe zumindest in Teilen die hohe Zahl an (sexualisierten) Übergriffen bei Menschen mit Behinderung.

Und dennoch: Erfreulich ist, dass viele offene, progressive und fachlich versierte Mitarbeiter*innen und Institutionen der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe in vielen Bereichen und Lebenssituationen Exklusion vermeiden können. Und fakt ist ebenfalls, dass vieles durch diese Mitarbeiter*innen und Institutionen in der Praxis unabhängig von Gesetzestexten und trotz stereotyper Bilder bereits umgesetzt wird. Selbstbestimmte Freundschaften, Partner*innenschaften und Sexualität sind ein Menschenrecht und bereits jetzt aus einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit nicht mehr wegzudenken.

Abschließend sei also nochmal betont:

Die bisherigen gesetzlichen Reformen reichen nicht aus und können so strukturelle Benachteiligungen nicht aufheben. Mittelfristig muss hier nachgearbeitet werden, um Exklusion zu verhindern, um Teilhabe zu gewährleisten. Der Anfang ist gemacht!

Kinder und Jugendliche mit Behinderung können nicht darauf warten, dass Gesetze und die daraus folgenden Konditionen optimiert werden. Wir müssen jetzt das bestmögliche gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen organisieren.

Leitend ist nach wie vor die Frage: Wer behindert hier wen? Ein wechselseitiges Verständnis fokussiert nicht einseitig auf eine individuelle Einschränkung und macht individuelle und institutionelle inklusive Weiterentwicklung möglich.

Dadurch besteht die Möglichkeit sich von diskriminierenden Konstruktionen wie dem ‚Othering‘ gegenüber Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung bewusst zu verabschieden, um aus dem ‚WIR und DIE ANDEREN‘ ein ‚WIR!‘ gemeinsam zu erarbeiten.

Dies bedarf Vorort in den Institutionen und bei den Fachkräften einer großen Anstrengung. Auch wenn das ‚WIR!‘ in unseren Köpfen stattfinden muss, werden Fortbildungen, weitere Fachkräfte und entsprechende finanzielle Mittel notwendig, um die Bemühungen nicht versanden oder gar scheitern zu lassen.

Die Ergebnisse – Errungenschaften und Fails - müssen dokumentiert und evaluiert werden. Dies ist unumgänglich um gelingende Wege sichtbar und übertragbar sowie Sackgassen identifizierbar zu machen.

Das Verhältnis von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht sowie interne Verflechtungen mit anderen Kategorien und innerhalb der Kategorie Behinderung muss eingehend sozialwissenschaftlich erforscht werden. Dies um Strukturen sozialer Ungleichheit sowie intersektionale Dynamiken zu identifizieren und letztlich Gewalt gegen Menschen mit Behinderung (besser) zu verhindern.

Pädagogische Ausbildungen müssen Aspekte und Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit und ohne Behinderung standardisiert beinhalten. Aus Sonderpädagogik muss eine Pädagogik werden.

Der Gedanke der Partizipation muss bei der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe leitend sein: Kinder, Jugendliche, Erwachsene mit Behinderung und deren Angehörige und begleitenden Personen müssen auf diesem Weg entsprechend beteiligt und mit einbezogen werden. Nur so können Bedürfnislagen, Ideen und Notwendigkeiten erfasst werden.

Für diesen Zusammenhang kann die von Aktion Mensch zentral gestellte Frage herangezogen werden: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

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[i] Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit sowie Gründer der SOZIALHELDEN betont immer wieder das behinderte Menschen durchaus als behindert bezeichnet werden können. Damit ist ja letztlich noch nicht gesagt, wer oder was hier eigentlich wen behindert. Die Behinderung ist eine Tatsache, die für die betreffenden Personen von Bedeutung ist und deshalb deutlich benannt werden kann – auch ist Tatsache, dass grundsätzlich eine unangepasstes Umfeld eine Behinderung für Menschen ist (vgl. https://sozialhelden.de/loesungen-barrierefreie-region/).

[ii] KJSG: Kinder und Jugend Stärkungs-Gesetz (SGB VIII)

[iii] Der Begriff „Behinderung“ ist problematisch, weil er zwischen Menschen mit und ohne etwas unterscheidet.

Stattdessen wird Behinderung aus der Wechselwirkung von körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entstehend betrachtet (vgl. D. Bange 2020, S. 178 in: Forum Erziehungshilfen (ISSN 0947-8957), Ausgabe 3, Jahr 2020, Seite 178 – 184).

[iv] mit dem Fokus auf die individuelle Beeinträchtigung, welcher die Hauptverantwortung für Nicht-Teilhabe zugeschrieben wird – was so natürlich nicht stimmt.

[v] Vgl. Bange, Dirk; 2020: Basierend auf einer Meta-Analyse der Daten von 17 Studien, die insgesamt 18.374 Kinder mit Behinderungen erfassten und höheren methodischen Ansprüchen genügten, belegen ein deutlich erhöhtes Risiko einer Kindeswohlgefährdung (KWG):

• 20,4 Prozent wurden körperlich misshandelt (3,56-mal häufiger als nicht behinderte Kinder).

• 9,5 Prozent wurden vernachlässigt (4,56- mal häufiger als nicht behinderte Kinder).

• 8,1 Prozent erlebten emotionalen Missbrauch (4,36-mal häufiger als nicht behinderte Kinder).

• 13,7% widerfuhr sexualisierte Gewalt (2,88- mal häufiger als nicht behinderte Kinder).

[vi] Raab, Heike (2012): Intersektionalität und Behinderung – Perspektiven der Disability Studies. URL: www.portal-intersektionalität.de [10.12.2015 zugegriffen]

[vii] Mecheril und do Mar Castro Varela beschreiben die abwertende Dynamik des ‚Othering‘ im Kontext von migrationssensiblem Arbeiten.  In: Mecheril, P. (HG) Migrationspädagogik, Beltz, 2010

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