Paritätische Umfrage: Massive Einbrüche bei sozialen Angeboten

Pressemitteilung - geschrieben am 26.07.2023 - 11:58

Stuttgart 26.07.2023 Die aktuellen Kosten- und Tarifsteigerungen führen zum Verlust sozialer Angebote und tiefen Einschnitten bei der sozialen Infrastruktur in Baden-Württemberg. Das ergibt eine landesweite Umfrage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg in seiner Mitgliedschaft, an der sich Träger aus dem gesamten Spektrum der sozialen Arbeit mit ca. 270 unterschiedlichen Angeboten beteiligten. Danach existieren aktuell nur noch rund 74 Prozent der Angebote standardmäßig und in vollem Umfang. Die Prognose für das laufende Jahr zeigt eine Schrumpfung der Angebote auf rund 64 Prozent und für 2024 auf rund 55 Prozent. Der Verband warnt vor massiven Einbrüchen bei der Versorgung hilfsbedürftiger Menschen und fordert einen Notfallfonds für soziale Einrichtungen und Dienste.

Uta-Micaela Dürig, Vorständin Sozialpolitik des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg

Unsere Umfrage zeigt deutlich, dass der Verlust sozialer Angebote bereits in vollem Gange ist und unsere Gesellschaft verändern wird. Vor allem Mitgliedsorganisationen, die in mehreren Bereichen der Sozialen Arbeit tätig sind, müssen ihre Angebote aus wirtschaftlichen Gründen, steigenden Kosten und aufgrund eines großen Personalmangels einschränken. Das ist eine soziale Katastrophe, schadet den Menschen im Land und belastet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Bund, das Land und die Kommunen müssen in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich die auskömmliche und nachhaltige Finanzierung der Sozialen Arbeit sicherstellen, denn die Sozialwirtschaft lässt Menschen in diversen Notlagen nicht allein – Aufgaben, die sonst der Staat übernehmen müsste. Die fehlende Kostenkompensation gefährdet jetzt die in der Vergangenheit gemeinsam aufgebaute soziale Infrastruktur und die Versorgungssicherheit für hunderttausende von Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Wir benötigen ein klares Bekenntnis zur Sozialwirtschaft: Denn sie hält unsere Gesellschaft zusammen und ist hochgradig innovativ. Deshalb braucht es den Erhalt der sozialen Infrastruktur, unbürokratische Hilfen für die Liquidität und ein gemeinsames Vorgehen gegen den Arbeitskräftemangel. Für Einrichtungen und Dienste in finanzieller Not muss ein Notfallfonds eingerichtet werden, weil es unrealistisch ist, doppelt so viele Spenden und weitere Zuwendungen jährlich zum Erhalt einzunehmen. Zudem müssen sogenannte kommunale Freiwilligkeitsleistungen zu „Selbstverständlichkeitsleistungen“ werden. Sie wurden nicht ohne Grund ins Leben gerufen und werden dringend zur Aufrechterhaltung der erforderlichen sozialen Dienstleistungen für die Menschen im Land benötigt. Die geplanten drastischen Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 werden zudem gesellschaftliche Probleme verschärfen, wenn Leistungen nicht mehr im gleichen Umfang erbracht werden können. Und das, obwohl der Social Return on Investment (SRoI) nachweislich groß ist: Ein Euro frühzeitig in Soziale Arbeit investiert bzw. in Prävention hilft beispielsweise in der Suchtberatung 17 Euro für die spätere Behandlung zu vermeiden. Investitionen in Soziale Arbeit sind Investitionen in Zukunftsperspektiven!“

Ulf Hartmann, Vorstand Finanzen und Mitgliederberatung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg

Für die Finanzierung der Angebote nahezu aller Mitgliedsorganisationen sind öffentliche Kosten- und Leistungsträger von höchster Bedeutung. Das belegen auch die Ergebnisse der Umfrage. Öffentliche Finanzierungen sind in rund 96 Prozent der Angebote relevant und finanzieren im Durchschnitt aller Angebote knapp 80 Prozent der Kosten (Median 85 Prozent). Und genau hier liegt das Problem: Tatsächlich übernehmen die öffentliche Kosten- und Leistungsträger die Kosten bisher in rund 72 Prozent der Fälle nur teilweise bzw. in 6,3 Prozent der Fälle gar nicht. In 19,3 Prozent der Fälle ist die Frage der Kostenübernahme noch offen. Die Nutzer*innen und Einrichtungen selbst müssen einen zusätzlichen, relevanten Eigenbeitrag zum Ausgleich der Kostensteigerungen leisten, ohne den weitere Angebote eingeschränkt oder eingestellt werden müssten. Konkret müssen die Nutzer*innen in 58 Prozent der Fälle und Mitgliedsorganisationen in rund 79 Prozent der Fälle die Finanzierung der Angebote unterstützen.“

Stephanie Schindler, Personalleiterin bei Pasodi gGmbH, Stuttgart

„Kostendruck, Mangel an qualifiziertem Personal und ausufernde Bürokratie führen in letzter Konsequenz zum bereits angelaufenen Heimsterben und einer ebenfalls bereits anrollenden Insolvenz- oder Schließungswelle bei ambulanten Pflegediensten. Viele kleinteilige und niederschwellige Angebote wie Quartiersarbeit, Besuchsdienste, Beratungsdienste, kostenlose Fortbildungen für pflegende Angehörige werden zurückgefahren, weil man sich diese bedeutenden Projekte wirtschaftlich nicht mehr leisten kann. Bei all den Herausforderungen dürfen auch die Belange unserer Bewohnerinnen und Bewohner nicht vernachlässigt werden, auf deren Rücken das alles ebenfalls ausgetragen wird. Der durchschnittliche Eigenanteil Pflegebedürftiger in Baden-Württemberg liegt bei EUR 2.845 EUR, immer mehr Pflegeheimbewohner sind auf Sozialhilfe angewiesen. Das aktuelle System steht am Abgrund. Wir brauchen eine umfassende Pflegereform mit Umbau der Pflegeversicherung zu einer „Vollkasko“versicherung analog der gesetzlichen Krankenversicherung. Der sogenannte Sockel-Spitztausch der Kosten muss endlich vollzogen werden. Bei der Pflegefachkrafteinwanderung, insbesondere im Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisbereich, aber auch im Bereich des Anerkennungsverfahrens ist ein drastischer Bürokratieabbau erforderlich.“

Benjamin Kaufmann, Geschäftsführung beim Kindersolbad gGmbH, Bad Friedrichshall

„In Zeiten steigender Kosten zeigt sich, dass die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe personell und finanziell nicht krisenfest ausgestattet sind. Die finanziellen Mittel über Entgeltverhandlungen und Förderungen legen eine sehr hohe Auslastung zu Grunde und enthalten keine Absicherung von Risiken. Dies führt zu finanziellen Engpässen bei den Trägern und gefährdet Angebote für junge Menschen, die entscheidend für die Daseinsfürsorge sind. Ein Risikozuschlag wäre wichtig, der die Träger finanziell absichert. Im Wettbewerb um Fachkräfte beim derzeitigen Fachkräftemangel sind auch bessere finanzielle Rahmenbedingungen notwendig. Ein Abwerben durch bessere finanzielle Vergütung zum Beispiel bei öffentlichen Trägern kann zu einem Abwandern der Fachkräfte führen. Da von Seiten der öffentlichen Seite keine höhere Eingruppierung der Fachkräfte im Entgelt anerkannt wird, entsteht hier eine Schieflage im Wettbewerb und Angebote drohen dann aufgrund fehlenden Personals wegzubrechen. Durch die Digitalisierung und Maßnahmen unter dem Aspekt des Klimawandels und der Nachhaltigkeit kommen zudem verstärkt Kosten auf die Träger zu, die finanziell geschultert werden müssen. Auch hier sind zusätzliche finanzielle Mittel notwendig.“

Cornelia Lentl, Geschäftsführende Vorständin der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lautenbach e.V., Herdwangen-Schönach

„Die Einsparungen im sozialen Sektor im Bundeshaushalt und die steigenden Gesamtkosten vor Ort haben dramatische Folgen für die Angebote der Eingliederungshilfe und das Leben von Menschen mit Behinderung. Die Angebote der Eingliederungshilfe finanzieren sich in der Regel über kommunale Vergütungen. Erhalten die Kommunen keine ausreichende Finanzierung für die vielfältigen Herausforderungen ihrer Aufgaben, laufen Einrichtungen der Eingliederungshilfe Gefahr, Leistungen einstellen zu müssen. So droht Teilhabe, zum Luxusgut zu verkommen. Und werden die Kassen vor Ort knapp – dann ist Eines klar: Menschen mit Behinderung sind die Verlierer und die Angebotsvielfalt wird bedroht. Um den Fachkräftemangel auch in der Eingliederungshilfe zu kompensieren, fordern wir endlich wirksame Lösungen vom Land. Es kann nicht sein, dass Gesetze und Verordnungen vom Land beschlossen werden, ohne die Finanzierung zu klären. Leistungserbringer fühlen sich bei der Erfüllung oft alleine gelassen. Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif! Die geplanten Kürzungen im Bundeshaushalt im sozialen Sektor verschärfen die prekären Personalsituationen an der Basis und müssen zwingend zurückgenommen werden.“

Manfred Asel, Koordinator Sozial- und Verfahrensberatung und Beratungsdienste beim Freundeskreis Asyl Karlsruhe e.V., Karlsruhe

„Die geplanten drastischen Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 bei den Psychosozialen Zentren von rund 17 Millionen Euro (2023) auf 7 Millionen Euro (2024), der Migrationsberatung für Erwachsene Zuwanderer (MBE) um beinahe 30 Prozent auf 57,5 Millionen Euro und eine Stagnation der Mittel für die Asylverfahrensberatung (AVB) bei 20 Millionen Euro statt der zugesagten Aufstockung auf 40 Millionen Euro haben fatale Folgen für Trägerorganisationen, für das Gemeinwesen als auch für die Teilhabechancen von Geflüchteten und Migrant*innen vor Ort. Vielen Mitarbeiter*innen in den einzelnen Programmen drohen durch diese Kürzungen Arbeitsplatzverluste. Zudem widersprechen die Kürzungen- insbesondere in der MBE- der Zielformulierung des reformierten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und stellen in Form dieses Kahlschlags in der Migrationsarbeit einen klaren Bruch des Koalitionsvertrages dar. Wir fordern eine sofortige Abkehr von dieser Kürzungspolitik, eine langfristige Sicherung von Strukturen und Finanzmittel in der Migrationssozialarbeit und einen klaren politischen Willen für eine Einwanderungsgesellschaft!“

Pressekontakte:

Pasodi gGmbH, Stuttgart, Stephanie Schindler, Tel. 0711/699667859,  E-Mail: schindler@pasodi.de

Kindersolbad gGmbH, Bad Friedrichshall, Benjamin Kaufmann, Tel. 07136 9506-14, E-Mail: Benjamin.Kaufmann@kindersolbad.de

Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lautenbach e.V., Herdwangen-Schönach, Cornelia Lentl, Tel. 07552 262 120, E-Mail: c.lentl@lautenbach-ev.de

Freundeskreis Asyl Karlsruhe e.V., Karlsruhe, Manfred Asel, Tel. 0157 70647604, E-Mail manfred.asel@fka-ka.de

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