Housing First: Wohnen ist ein Menschenrecht

Fachinformation - geschrieben am 24.10.2022 - 16:05
Wohnungsloser auf einer Matratze im Freien

(R-) evolutionäre Impulse für Menschen in Wohnungsnot

233.000 wohnungslose Menschen leben laut aktueller Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) in Deutschland(1) Gründe sind Gentrifizierung, steigende (Miet-)Preise und zu wenig leistbarer sowie angemessener Wohnraum. Wohnungslosigkeit bedeutet, auf fundamentale Rechte zu verzichten und nicht selten als „selbst schuld“ an der Notlage zu gelten. Wohnen ist jedoch ein menschliches Grundbedürfnis – ein Menschenrecht, das für Betroffene kaum zu verwirklichen ist. Im Gegensatz zu der Vorstellung, erst durch das Hilfesystem werde man „fit“ für eine eigene Wohnung, setzt Housing First die Grundhaltung voraus, dass jeder Mensch selbstständig wohnen kann.

Housing First – was ist damit gemeint?

Housing First konzentriert sich auf besonders ausgegrenzte Wohnungslose mit Multiproblemlagen, die oft an den Zielen abseits des Wohnens scheitern. Das Besondere bei Housing First ist, dass der Bezug des Wohnraums nicht an Bedingungen geknüpft ist und die Hilfen freiwillig angenommen werden. Eine Kündigung des Wohnverhältnisses ist nur aus den gleichen Gründen wie bei anderen regulären Mietverhältnissen möglich. Großen Wert wird auf eine akzeptierende Arbeit gelegt – eine Offenheit für professionelle Besuchskontakte ist erwünscht. Abstinenz oder die Teilnahme an Wohntrainings werden nicht erzwungen. Housing First ist allerdings nicht gleichzusetzen mit „Housing Only“, sondern mit „Housing Plus“: Das Angebot qualifizierter wohnbegleitender persönlicher Hilfen gehört zu diesem Ansatz und gestaltet sich nach Freiwilligkeit und den Vorlieben der Nutzer*innen.

Grundprinzipien von Housing First

Housing First bedeutet normales Wohnen! Das gilt für die Privatsphäre und die vollen Mieter*innenrechte. Dies bedeutet eine andere Wohnqualität als vorübergehende Unterbringung. Für die Umsetzung werden acht Grundprinzipen vorausgesetzt, die von der bisher gängigen Praxis abweichen. Ziele sind, die Stabilität der Wohnverhältnisse zu sichern, die Gesundheit und das Wohlbefinden zu stärken und die Menschen in ihrer Teilhabe zu unterstützen, indem sie – wenn gewünscht – ein Netzwerk aufbauen und Zugang zu sinnstiftenden Tätigkeiten erhalten. Das Machtverhältnis zwischen Adressat*innen und Hilfegebenden verändert sich dahingehend, dass Adressat*innen entscheiden, welche Angebote sie annehmen.

Was kann Housing First bewirken?

Insbesondere der Blick nach Finnland lohnt sich, wo Housing First seit 1987 als Teil der nationalen Strategie zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit umgesetzt wird. Als einziges europäisches Land erreicht Finnland, die Zahl der Betroffenen jährlich zu reduzieren. So sank die Zahl von rund 20.000 Betroffenen auf derzeit weniger als 5.000. Weitere Evaluationsergebnisse aus Kanada und dem Housing-First- Europe-Projekt stützen die Aussagen zur Wirksamkeit: Bei einer Untersuchung mit 2.200 Menschen zeigte sich, dass 73 Prozent der Nutzer*innen von Housing First über einen Zeitraum von zwei Jahren in ihren Wohnungen verblieben. In den Städten Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon lag der Wohnungserhalt nach 12 Monaten bei 80 bis 90 Prozent. Auch Modellprojekte in Berlin und Gießen weisen auf die positiven Effekte des Ansatzes hin. Aktuell sind zahlreiche weitere Initiativen u.a. in Baden-Württemberg geplant.

Effekte von Housing First sind

  • durch rasche Versorgung mit Wohnraum wird Wohnungslosigkeit beendet und werden Folgekosten reduziert,

  • andauernde und sich wiederholender Wohnungslosigkeit („Drehtüreffekte“) wird reduziert,

  • wohnungslosen Menschen wird ermöglicht, dauerhaft im Sinne der Menschenrechte in eigenem Wohnraum zu leben.

Herausforderungen und deren Überwindung

Für eine entsprechende (R-)Evolution benötigt es einen Paradigmenwechsel. Explizit geht es nicht um ein Ersetzen des bisherigen Hilfesystems, sondern um dessen Weiterentwicklung. Dafür müssen die Grundprinzipien des Housing First Ansatzes eingehalten werden.

Um angemessenen Individualwohnraum, eine dauerhafte Bleibeperspektive und flexible sowie konsequent aufsuchende Hilfen zu etablieren, ist die Zusammenarbeit verschiedener Akteure auf politischer, institutioneller und privater Ebene obligatorisch. Ein beharrliches Vorgehen gegen Wohnungslosigkeit benötigt das komplette Spektrum der sozial-, gesundheits- und wohnungspolitischen Interessensträger sowie die Hilfelandschaft, die beispielsweise auch präventive Angebote und betreute Wohngemeinschaften bereitstellt. Aber auch spezifische Fortbildungen und das Hinterfragen von tradierten Haltungen werden notwendig.

  • Gezielte Beschaffung von Wohnraum

    Die Kommunen benötigen eine bestimmte Anzahl an Wohnungen, die vorrangig von der Zielgruppe belegt wird. Kommunen müssen mit privaten Vermieter*innen, (sozialen) Wohnungsbaugesellschaften und sozialen Einrichtungen kooperieren. Die Zielgruppe erhält privilegierten Zugang zu privat vermieteten Immobilien (zum Beispiel durch Sanierungszuschüsse und eine Risikominimierung).

  • Die Hilfen nach § 67 SGB XII werden in der Praxis zeitlich oft stark limitiert 
    Eine zeitliche Begrenzung der Hilfen ist im Gesetz nicht vorgeschrieben. Flexibilisierung der Hilfestellung im Sinne von „so lange wie nötig“.

  • Befürchtung, dass wohnungslose Menschen durch eigenen Wohnraum sozial isoliert werden, allerdings möchten viele Betroffene auch nicht dauerhaft in (Zwangs-) Wohngemeinschaften leben

    Implementierung von Peer-Support-Initiativen, was die soziale Isolation reduziert und persönliche Weiterentwicklung befördert.

  • Defizitorientierte Haltung gegenüber der Zielgruppe

Es benötigt ein Umdenken durch spezifische Fortbildungen und Nachweis der Wirksamkeit durch wissenschaftliche Evaluation.

Umsetzung von partizipativen Ansätzen und engere Zusammenarbeit zwischen Kostenträgern, Hilfesystem und Betroffenen.

 

Prof.in Dr.in Jeanette Pohl

IU Internationale Hochschule Stuttgart

 

(1)Menschen, die ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum leben, bei Freunden und Bekannten unterkommen und ohne Unterkunft teils unfreiwillig auf der Straße leben müssen.
Quellen
  • BAG-W (2022). Statistik der untergebrachten wohnungs- losen Personen: Statistik der untergebrachten wohnungs- losen Personen – BAG W, letzter Zugriff am 25.07.2022
  • Bleise, Daniel (2019). Gießen als Vorreiter in der Wohnungslosenhilfe. Verfügbar unter: https://www. giessener-allgemeine.de/giessen/giessen-als-vorreiter- in-der-wohnungslosenhilfe-90880173.html
  • Busch-Geertsema (2021). WOHNUNGSNOT ÜBERWIN- DEN – UND WAS DER HOUSING-FIRST-ANSATZ DAZU BEITRAGEN KÖNNTE. Reutlingen am 22.10.2021
  • Busch-Geertsema, V. (2002). When homeless people are allowed to decide by themselves. Rehousing homeless people in Germany, in: European Journal of Social Work 5 (1) S. 5-19
  • Gerull, S. (2021). Evaluation des Modellprojekts „Housing First Berlin“ Endbericht, verfügbar unter: https://housing- firstberlin.de/evaluation/HousingFirst_Evaluationsend- bericht_2021.pdf
  • Goering, P., Veldhuizen, S., Watson, A., Adair, C., Kopp, B., Latimer, E., Nelson, G., MacNaughton, E.,Streiner, D. und Aubry, T. (2014). National at Home/Chez Soi Final Report Calgary, AB: Mental Health Commission of Canada.: At Home Sustainability Cross-Site Report Final (mental- healthcommission.ca)
  • Keicher, R. & Gillich, S. (Hrsg.) (2014). Wenn Würde zur Ware verkommt: soziale Ungleichheit, Teilhabe und Verwirklichung eines Rechts auf Wohnraum. Springer VS
  • Pleace, Nicholas (2016). Housing First Guide Europe: Wien: Neunerhaus, https://housingfirsteurope.eu/wp-content/ uploads/2021/12/housing-first-guide-deutsch.pdf, letzter Zugriff am 25.07.2022
  • The Housing First Europe Hub (2022). https://housing- firsteurope.eu/about/what-is-hf/ , letzter Zugriff am 25.07.2022

 

Beitrag aus PARITÄTinform 3/2022

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