Kürzungen bei den Freiwilligendiensten
Die Lage ist ungewiss. Mögliche Kürzungen im Bundeshaushalt könnten dazu führen, dass 2024 jeder vierte Platz in den Freiwilligendiensten in Baden-Württemberg wegfallen wird. Das bedroht die Freiwilligendienste in ihrem Kern. Ein erfolgreiches Format für Orientierung, Bildung und gesellschaftliches Engagement würde dadurch gefährdet, genauso wie die Zusatzangebote in den Einrichtungen, die erst durch Freiwillige möglich sind. Paritätinform sprach darüber mit Corinna Mühlhausen, Leiterin Freiwilligendienste beim Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg, und mit Anna Voss, Referatsleiterin Freiwilligendienste beim Landesverband Baden-Württemberg der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung.
Freiwilligendienste bereichern alle
Warum ist der Freiwilligendienst so wichtig für unsere Gesellschaft?
CM: Die Freiwilligendienste stärken den sozialen Zusammenhalt und Gemeinsinn, da sich Menschen über soziale und kulturelle Grenzen, aber auch über Generationen hinweg begegnen. Ein freiwilliges Engagement für ältere Menschen oder Kinder, für hilfsbedürftige oder sozial benachteiligte Gruppen gibt Einblick in unterschiedliche Lebenswelten. Das baut Berührungsängste ab und fördert Verständnis. Gerade in Zeiten, in denen die Spaltung der Gesellschaft zunimmt, ist dies für ein solidarisches und demokratisches Miteinander wichtig.
Aus welchen Gründen profitieren besonders die jungen Menschen von einem Freiwilligendienst?
AV: Die Freiwilligen probieren sich aus und entwickeln sich persönlich weiter. Sie bekommen Einblick in soziale Einrichtungen und ins Arbeitsleben, orientieren sich beruflich und erwerben wichtige Kompetenzen. Diese wertvollen Erfahrungen prägen viele Freiwillige ein Leben lang.
CM: Pädagog*innen begleiten junge Menschen während der Seminartage. Sie unterstützen die Freiwilligen bei persönlichen Krisen und bei Orientierungsfragen. Wir FSJ-Träger erleben, dass viele Jugendliche nach der Pandemie und angesichts der globalen Krisen sorgenvoll in die Zukunft blicken. Die Erfahrung, etwas Sinnvolles für sich und andere Menschen zu tun, stärkt die Freiwilligen.
Warum lohnt sich ein Freiwilligendienst auch für Ältere, die mitten im Leben stehen oder aus dem Berufsleben ausscheiden?
CM: Lebensältere Freiwillige leisten ihren Dienst meist in Zeiten des Übergangs: zum Beispiel als Wiedereinstieg nach einer Familienphase, als berufliche Neuorientierung. Andere möchten unsere Kultur besser kennenlernen, Sprachkenntnisse verbessern oder sich im dritten Lebensabschnitt sozial engagieren. Diese Menschen bringen ihre Erfahrungen ein, sie profitieren von der Tätigkeit und dem Bildungsangebot.
Welche Rolle spielen Freiwilligendienstleistende für die Einrichtungen und was bewirken Sie für die Klient*innen?
AV: Die Menschen in den Einsatzstellen bekommen von den Freiwilligen Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt. Freiwillige bringen mit ihrem Blick von außen „frischen Wind“ in die Einrichtungen. Die Einsatzstellen gewinnen möglicherweise auch Nachwuchskräfte, neue Mitarbeitende oder längerfristig Engagierte.
Die Freiwilligendienste dürfen nicht kaputtgespart werden.
Was bedeuten mögliche Haushaltsmittelkürzungen konkret für die Freiwilligendienste?
AV: Die Petition #freiwilligendienste-stärken und die kreativen Aktionen #kürzt-uns-nicht-weg waren zunächst wirksam. Mitte November wurden die für 2024 geplanten Kürzungen zurückgenommen. Kurz darauf hat die Regierung die Verabschiedung des Haushalts 2024 verschoben und eine Haushaltssperre erlassen. Die Lage ist also ungewiss. Sollten Bundesmittel um 78 Millionen Euro gekürzt werden, gibt es die Freiwilligendienste in der bisher gekannten Form nicht mehr. Landesweit könnten bis zu 4.500, bundesweit sogar bis zu 25.000 Plätze wegfallen.
Wie gehen Sie als die Träger damit um?
CM: Die Kürzung des BFD schlägt sich eins zu eins auf die Zahl der Plätze nieder. Im FSJ sind wir in einer Zwickmühle: Reduzieren wir die Plätze oder müssen die Einsatzstellen die fehlende Finanzmittel kompensieren? Bei einem Kompromiss leidet die Qualität.
AV: Eine Inklusion von Menschen mit Unterstützungsbedarfen, Beeinträchtigungen und jungen Menschen, die sich keinen Freiwilligendienst leisten können, wird fast unmöglich.
Was würde das für die Einrichtungen bedeuten?
CM: Ein Teil der bisherigen Einsatzstellen steigt aus dem Freiwilligendienst aus. Das heißt ihre Stellen für Freiwilligendienstleistende entfallen. Das ist ein großer Verlust für die Klient*innen. Das Fachpersonal verliert Unterstützung bei Tätigkeiten, die keine fachliche Qualifikation, aber unbedingt Zeit erfordern! Angebote, die erst durch Freiwillige möglich sind, werden stark reduziert oder fallen weg.
Warum wären die Streichungen gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel und das Engagement in der Wohlfahrt fatal?
AV: FSJ und BFD fördern das ehrenamtliche Engagement. Die wertvollen Erfahrungen öffnen Türen für Inklusion und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Häufig entscheiden sich Freiwillige nach ihrem Freiwilligendienst für ein Studium oder eine Ausbildung im sozialen Bereich oder engagieren sich weiter ehrenamtlich. Fällt der Freiwilligendienst weg, werden Freiwilligen- und Arbeitskräftemangel weiter zunehmen.
53 Mio. €
im Bundesfreiwilligendienst und
25 Mio. €
in den Jugendfreiwilligendiensten (FSJ, FÖJ und IJFD)
will der Bund im Haushaltsjahr kürzen.
Krise als Chance: Zukunftsfähigkeit der Freiwilligendienste
Welche politischen Rahmenbedingungen und Konzepte braucht es, um die Freiwilligendienste zukunftsfähig zu machen?
CM: Immer wieder stoßen Politiker*innen eine Debatte um ein soziales Pflichtjahr an. Wir sehen das kritisch: Menschen, die sich freiwillig engagieren, bringen mehr Motivation und Begeisterung mit als Menschen, die zu einer Tätigkeit verpflichtet werden. Besser ist es, einen Rechtsanspruch auf einen Platz im Freiwilligendienst zu verankern und diesen attraktiver zu gestalten. Dazu braucht es einen besseren Zugang zum Wohngeld und ein Bafög für Freiwillige. Die Anrechnung des Taschengeldes bei Bezug von Sozialleistungen der Familienangehörigen muss entfallen. Die kostenlose Nutzung des Nah- und Fernverkehrs, eine höhere Wertschätzung sowie die Anrechnung des Engagements auf Ausbildung und Studium sind weitere Maßnahmen, die nur einen Bruchteil der Kosten verursachen, die für einen Pflichtdienst anfallen würden.
AV: Wir FSJ-Träger reagieren auf die Bedarfe der jungen Generation und entwickeln unsere Konzeptionen weiter. Um die Freiwilligen in ihren individuellen Lebenslagen gut zu begleiten benötigen wir neue Kompetenzen, zum Beispiel für den Umgang mit mehr jungen Menschen mit psychischen Belastungen. Wir benötigen einen stabilen Finanzierungsrahmen um diesen Herausforderungen gerecht zu werden und zukunftsfähig zu sein.
Beitrag aus Paritätinform 4/2023