Wie gewinnen und halten wir Fachkräfte?

Fachinformation - geschrieben am 20.04.2023 - 15:20
eine bunte Runde von Menschen vor einem Schreibtisch, gut gelaunt

Wenn Sie das lesen, ...

… sind Sie schon so gut wie eingestellt – einmal angenommen, Sie wären auf Jobsuche. Wenn nicht, lesen Sie trotzdem weiter. Sie werden sich jetzt fragen: Reicht es heutzutage schon, wenn ich die Aufmerksamkeit potenzieller Bewerber*innen für mich als Arbeitgebenden auch ohne eine konkrete freie Stelle bekomme? Nun, die gewöhnungsbedürftige, aber wahre Antwort lautet: Ja. Und noch gewöhnungsbedürftiger: Mehr sollten Sie erstmal nicht verlangen. Herzlich willkommen in einem sich bewegenden Arbeitsmarkt!

Die Bewegungen, die wir wahrnehmen, sind nicht nur die Umkehrungen von Angebot und Nachfrage im Fachkräftemangel, sondern auch die Veränderungen der Erwartungsschrauben. Reicht es, die Aufmerksamkeit von Menschen zu bekommen, die sich vielleicht dann doch nicht auf eine konkrete Stelle bewerben? Ja, denn niemand kann so richtig einschätzen (und messen), wie diese Selbstdarstellung und Wirkung als Arbeitgeber sich vielleicht später einmal auszahlen. Initiativbewerbungen wirft heute kein/e Personalverantwortliche/r mehr weg, der noch klar bei Verstand ist. Was heute (noch) nicht passt, kann mir in ein paar Monaten unter Umständen viel Zeit und Vakanzkosten sparen.

Vorbei die Zeiten, in denen wir als Entscheider*innen für Anstellungsträger viel Zeit verwendet haben, möglichst präzise die eierlegende Wollmilchsau zu beschreiben, die wir jeweils suchten. Vorbei die Zeiten, in denen wir im typischen „post and pray“-Verhalten eine hinreichende Menge an Bewerbungen ernteten, um so etwas wie eine Auswahl zu haben: Man postete (i. e. schrieb aus) und betete um Rücklauf. Vorbei die Zeiten, in denen wir uns selbst für so perfekt hielten, dass es schon irgendjemanden gibt, der für uns arbeiten will.

Aufmerksamkeit und echtes Interesse am Menschen

Ja, ich provoziere. Aber letztlich ist es schlichte Empirie, die beantworten hilft, welche Zeiten denn nun gelten. Und da hilft die Aufmerksamkeit und das echte Interesse am Menschen schon sehr viel weiter. Je weniger ich den Erwartungshorizont dehne, desto mehr lasse ich Raum, mich als Bewerber*in in diese Stelle und vor allem die Stellenbedingungen hineinzudenken.

Warum ist auch hier der erste Eindruck entscheidend? Ganz einfach: Bindung beginnt am Tag der Einstellung. Oder präziser: an dem Tag, an dem das Gespräch über Perspektiven, Ziele und Motivationen in der Organisation (nicht nur auf der Stelle) stattfindet. Dieser Tag sollte so früh wie möglich stattfinden. Für manche findet er leider nie statt, weil an dessen Stelle noch so genannte Onboarding-Prozesse stehen, die oft mehr bis ausschließlich etwas mit der Summe der Erwartungen der Organisation in der Längsschnittbetrachtung der letzten zwei bis drei Stelleninhaber*innen hinweg zu tun haben als mit der Frage: Wie würdest Du die Stelle verstehen und ausfüllen, jetzt, wo Du da bist, liebe/r neue/r Kollege/Kollegin?

Verschiedene Bindungsindikatoren

Bindung grundsätzlich:

Mitarbeitendenbindung ist emotionale Bindung (Gallup Mitarbeiter-Engagement-Index Deutschland 2016). Selbst in technischen Bereichen ist dies so, erst recht in der so genannten moral economy. Diese emotionale Bindung beginnt basal bei Grundbedürfnissen und einfachsten Rollenklarheiten, wie z. B., dass ich weiß, was von mir erwartet wird und die Arbeit Sinn macht. In der nächsten Stufe geht es um Unterstützung, Anerkennung in der Arbeit und Förderung der persönlichen Entwicklung. In fortgeschrittener Stufe geht es um Beziehungen, Kollegialität und Kohärenz zwischen Teamplay und Organisationszielen. Und an der Spitze von Bindungsindikatoren befinden sich komplexe Überlegungen, wie Organisationsentwicklung und meine persönliche Entwicklung Hand in Hand gehen. Nur wer hinter alle diese Punkte einen überzeugenden Haken setzen kann, hat Mitarbeitendenbindung verinnerlicht.

Bindung als Baustein eines Lebenszyklusmodells

Bindung praktisch:

Wer nach betrieblichen Konzepten und Personalmanagement-Tools sucht, stößt früher oder später auf ein für längere Zeit gängiges Konzept, das 3R-Modell (u.a. Institut der deutschen Wirtschaft 2012: Personalkompass. Köln). Bindung ist dabei ein Baustein eines Lebenszyklusmodells, bestehend aus Recruiting, Retention und Retirement. Genau genommen ist es nur das mittlere „R“, Retention, welches – als Maximierung von Mitarbeitendenzufriedenheit gedacht – den Bindungserfolg ausmacht. Heutzutage sind aus den drei „R“ fünf „R“ geworden und sind ähnlich wichtige Bestandteile eines Bindungsprozesses, an dessen Wegmarken man als Personalverantwortliche/r ähnlich wichtige Fehler machen kann: Recruiting, Retention, Retreat, Retirement und Return. In Zeiten des Fachkräftemangels und der demografischen Alterungsprozesse ist eine Anstellung genauso wenig einfach nur eine Anstellung, wie ein Ausscheiden nur ein Ausscheiden sein kann. Neben Recruiting und Retention verbergen sich hinter Retreat Phasen der Neuorientierung (siehe oben: Entwicklungskohärenz) und Neuvereinbarung. Und auf Retirement folgt Return, das Binden über das Ausscheiden hinaus, das Reaktivieren von Prozess- und Strukturwissen sowie das Abfedern von Überlasten. Wobei immer gilt: Es kehrt nur zurück, wer sich bereits emotional gebunden fühlt und auch nach dem Ausscheiden kollegial-wertschätzend gesehen wird.

Bindung nicht als freundliches Angebot (schon gar nicht als Selbstläufer), sondern als ständiges Bemühen zu verstehen, kann einer Organisation sehr helfen. Im Übrigen gilt aber auch – und das ist die tröstende Nachricht –, dass eine „zu gut“ funktionierende Bindung eine Organisation „einschläfern“ kann. Sehr geringe Fluktuationen galten lange als Qualitätsindiz, als Ausweis eines „guten“ Arbeitsgebenden, bei dem es die Leute ja eben lange aushalten. So schlecht konnte man also nicht sein. Es lag vielleicht aber auch daran, dass Menschen mehrheitlich schon auch wegwollten, nur vielleicht auch den Stress einer Neubewerbung scheuten. Der Spatz in der Hand … So fanden sich sicher viele mit dem ab, was sie kannten, auch wenn es nicht wirklich das war, was man machen wollte. Zudem über Jahrzehnte.

Neue Besen kehren gut

Das gilt heute so nicht mehr. Die Stabilität am Arbeitsmarkt unter der „Boomergeneration“ lebte und arbeitete ganz wunderbar damit und davon, dass diese Generation qua ihrer schieren Größe Wettbewerb und Konkurrenzdenken gewohnt war. Dies wird – gottlob – heute gänzlich anders betrachtet. Der Wettbewerb hat die Anstellungsseiten gewechselt. Geringe Fluktuation gilt wie hohe Fluktuation längst als vergleichbar hohes Risiko. Risiko des Einschlafens, des nicht mehr hinreichend mit neuen Ideen, Aktualisierungen und Experimentierfreude in den Prozessen und Abläufen konfrontiert Werdens. Neue Besen kehren nun einmal gut, auch vor der eigenen Haustür. Wenn man sie lässt.

Prof. Dr. Berthold Dietz

Professur für Soziologie und Sozialpolitik, Leiter Masterstudiengang Sozialmanagement, Evangelische Hochschule Freiburg

 

Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022

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