Tender Tuesday und mehr gegen menschenverachtende Strukturen

Fachinformation - geschrieben am 12.07.2023 - 16:43
Frauen mit erhobener Faust von hinten

Die Töchter der Frauenbewegung gründeten sie seit den 1970ern: Frauengesundheitszentren. Im Feministischen Frauengesundheitszentrum FF*GZ Stuttgart wird noch für manches von damals gekämpft – und für viele neue Themen

Lest in Ruhe.“ Lilou projiziert eine Geschichte an die Wand. Da geht es um eine Frau, die auf einer Party den „sympathischen Irgendwie“ kennenlernt, der dann mal kommentiert „Hast du die Nacht durchgearbeitet oder warum siehst du so scheiße aus“, plötzlich im selben Unternehmen, gar am selben Projekt arbeite, ihre Ideen klaut, so ihr Vorgesetzter wird, sie bittet, in Schuhen mit Absatz zu arbeiten, mit Entlassung droht.

Workshop „Male Pleasing? Nein danke“

„Beantwortet für euch, ab wann ihr da ausgestiegen wärt“, sagt Lilou. Es ist eine Anfangsübung des hybriden Workshops „Male Pleasing? Nein danke:)“ Empowern soll er, das Selbst ermächtigen. Über 30 weiblich gelesene Personen sind live und online am „Tender Tuesday/Digitaler Dienstag“ im Feministischen Frauengesundheitszentrum FF*GZ Stuttgart dabei.

„Male Pleasing meint, einem männlichen Menschen gefallen zu wollen und in einer unangenehmen Situation nicht für sich einstehen zu können“, heißt es auf einer Folie. Kurz, auf Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlung im Alltag, anzügliches Verhalten oder Cat Calling, verbaler sexueller Belästigung im öffentlichen Raum, nicht angemessen zu reagieren.

Die Workshopteilnehmer*innen kennen das. „Habe mich wiedererkannt“ heißt es da. „Man will nur schnell weg, ärgert sich, sich nicht gewehrt zu haben. Oft heißt es ja ‚Zicke’“. Das sei Erziehung. Eine Folie zeigt: „Zwischen Patriarchaler Gewalt und Good Girl. Male Pleasing: Kontrolle oder Unterdrückung?“ Danach wird Neinsagen geübt. „Es geht darum persönliche Grenzen und die anderer zu erkennen und zu respektieren“, sagt Lilou.

„Endometriose – Hilfe für Selbsthilfe“ „Frauengesundheit und das Mikrobiom“ oder Verhütung zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und „Awareness“, rücksichtsvoller, verantwortungsbewusster, solidarischer Umgang; vom Happiness Lab für Alleinerziehende und der feministischen Liste in der Kommunalpolitik zu Kunsttherapie, Vulva-Abformung oder „Sex-positive Parties – Safer Spaces für Flinta*“. FLINTA* steht für all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden, Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht- binäre, trans und agender Personen.

Beim FF*GZ gibt es auch Angebote für (Cis-)Männer, etwa zu mehr Verantwortung beim Sex. Alle Geschlechter können sich, außer anders angegeben, beim Tender Tuesday einbringen. Dieser findet seit November 2017 wöchentlich statt: Vorträge, Gesprächsrunden und Workshops zu Unterschiedlichstem. „Der Eintritt ist frei, wir freuen uns über wertschätzende Beiträge“, so Lilou.

Die 28-Jährige hat Soziologie und Kunst-Medien-Kulturelle Bildung studiert, macht den Master in „Science and Technology Studies“ – und gehört zum 25-köpfigen Team des FF*GZ Stuttgart. Dort engagieren sich Menschen aus Biologie, Sozialarbeit, Pflege und Heilberufen, aus Literatur, Bildung und Kommunikation, aus Kunst, Kultur und Design.

Neue feministischen Themen und Strömungen

Bereits 1986 wurde der gemeinnützige Verein gegründet, um sich mit Themen rund um Feminismus, Körper, Gesundheit und Sexualität auseinandersetzen. Wie hat es sich weiterentwickelt? Wofür schon die Urfeministinnen kämpften, sei noch aktuell, betont Lilou: Aufklärung, Empowerment, Wissen über den eigenen Körper, Selbstbestimmung darüber und über die eigene Sexualität. Immer noch müsse für das Recht auf und die Entkriminalisierung von Abtreibung gekämpft werden, für die Gleichstellung der Geschlechter. „Stichwort Gender Pay Gap und Klassismus. Teile der Welt, auch in un- serer Gesellschaft, leben noch im Damals. Die feministischen Themen und Strömungen wurden erweitert – mit Queerfeminismus, intersektionalem-queer-Feminismus, Gewalt an FINTA* und deren Prävention, mehr Vielfalt, Awareness, Anti-Rassismus.“ Intersektionalität meint gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen: Soziale Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Klasse, Alter, Behinderung sind nicht isoliert, sondern eng verwoben. „Über vertraute Grenzen hinausdenken, sich auch Widersprüchen stellen“, so Lilou.

Sie kritisiert, wie weiße Feminist*innen verschiedener Generationen agierten. „Es gilt, das patriarchale und kapitalistische System zu hinterfragen, diskriminierende und menschenverachtende Strukturen zu verändern.“ Klimaaktivismus müsse man sozial und geschlechtergerecht gestalten. Binäres Geschlechterdenken sei veraltet, eine Sprachreform tue Not.

FF*GZ-Kolleg*in Bärbel nimmt den Faden auf „Sensible Schutz- räume schaffen gegen diskriminierende und ausgrenzende Sprache in öffentlichen und privaten Medien, Schulen, überall“, fordert sie. „Auf genderspezifische Rollenbilder aufmerksam machen und eliminieren sowie für diverse Identitätsent- wicklungen sensibilisieren.“ Feminismus sei nicht (mehr) Frauen*sache, richte sich an alle Menschen. „Jegliche Stereotypisierung auflösen, alle gleichstellen, auch in Bezug auf Familie und die heteronormativen Rollenerwartungen bei Frauen*, Müttern* und in non-binären Beziehungen.“

Verstärkt hätten sich durch den Einfluss von Social Media die großen Themen Körperbilder, Schönheitsideale, Perfektionismus. „Das beginnt bei jungen Menschen früh“, so Bärbel. Im FF*GZ spreche man eine breitere, intersektionalere Masse an.

„Die Räume dienen nicht nur als Schutzraum zum internen Leidens-Austausch. Sie motivieren und animieren zum Sichtbarwerden, Lautwerden und Veränderung schaffen!“

Kämpfe um politische Korrektheit sind langwierig

Lilou erzählt von lebhaften Diskussionen um Begrifflichkeiten und Publikum, darum, wie man inklusiver, offener und diskriminierungssensibel agiere, um Frauenräumen und Flinta*+ Räume. „Es gibt mehr Komplexität statt Einheit, mehr Spaltung, aber auch mehr Vernetzung“, konstatiert sie. Die Kämpfe um politische Korrektheit seien mühevoll und langwierig, Privilegierte zeigten wenig Einsicht für Intersektionalität.

„Trotz des Wissens um ‚critical whiteness’ leben die wenigsten so. Aber Intersektionalität wird spürbarer – oft durch ihre Abwesenheit.“

Petra Mostbacher Dix über das Feministische Frauen*gesundheitszentrum (FF*GZ) Stuttgart

 

Beitrag aus ParitätInform 1/2023

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