Ein Gedankenspiel: Angenommen ich bin erkrankt: Fällt es mir leichter darüber zu sprechen, dass ich unter einer Depression leide oder darüber, dass ich suchtkrank bin? Und wie wird es bewertet, wenn ein Mann eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hat oder aber eine Frau? Ist die Bewertung gleich oder unterschiedlich?
Obwohl „Sucht“ seit 1968 als behandlungsbedürftige Erkrankung anerkannt ist, wirkt bis heute das Stigma der Sucht und die damit unterschwellig verbundene Schuldzuschreibung. Diese Stigmatisierung und die damit verbundenen, abwertenden Zuschreibungen stellen bis heute ein Problem dar, das den Zugang zum Hilfesystem enorm erschwert.
„Frau und Sucht“ – doppeltes Stigma
Es gibt zwei Auffälligkeiten in der Suchthilfestatistik für Ba- den-Württemberg[1]:
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Menschen, die aufgrund einer Substanzgebrauchsstörung Hilfe in einer Suchtberatungsstelle wahrnehmen, sind zu über drei Vierteln männlich. Im Gegensatz dazu sind die Menschen, die aufgrund der Substanzgebrauchsstörung eines Angehörigen die Beratungsstellen aufsuchen, zu drei Vierteln weiblich.
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Wir könnten fälschlich schlussfolgern, dass Frauen weniger gefährdet sind, suchtkrank zu werden. Die Prävalenzzahlen für einen riskanten Alkoholkonsum liegen jedoch bei Männern (27 Prozent) und Frauen (21 Prozent) nicht weit auseinander. Gleiches gilt für den Tabakkonsum. Bekannt ist, dass Frauen häufiger Abhängigkeitsstörungen hinsichtlich psychotroper Medikamente entwickeln. 60 bis 70 Prozent der Medikamentenabhängigen in Deutschland sind weiblich. Da die Suchthilfestatistik für Baden-Württemberg dies nicht abbildet, muss davon ausgegangen werden, dass betroffene Frauen derzeit nicht hinreichend von den Angeboten der Suchthilfe erreicht werden.
Frauen unterscheiden sich von Männern hinsichtlich Ursachen und Verläufen von Abhängigkeitserkrankungen sowie hinsichtlich bevorzugter Suchtmittel, Konsummuster und begleitender Erkrankungen. Studien haben gezeigt, dass Frauen häufiger als Männer Tabak, Alkohol und psychoaktive Medikamente dazu benutzen, um Stress oder Langeweile abzubauen, Depressionen in den Griff zu bekommen, sexuelle Hemmungen zu überwinden, ihr Selbstvertrauen zu steigern oder ihr Gewicht zu kontrollieren.
Suchtkranke Frauen sind überdurchschnittlich häufig von Gewalt betroffen[2]
Als Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung bei Frauen gelten heute sexuelle und andere Gewalterfahrungen und Essstörungen. Bis zu 90 Prozent der Frauen mit Substanzgebrauchsstörungen haben im Laufe ihres Lebens Gewalt erfahren.
Die Zugänge zum Hilfesystem müssen diesen besonderen Belastungen suchtkranker Frauen strukturell und konzeptionell Rechnung tragen. Häufige Minderheitenpositionen in gemischtgeschlechtlichen Angeboten schmälern deren Wirksamkeit für Frauen.
Die Erweiterung der Einrichtungskonzepte um geschlechtergerechte Zugänge und Handlungsansätze ist bislang nicht flächendeckend gesichert und punktuell getragen vom Engagement einzelner Mitarbeitenden. Die Suchthilfeeinrichtungen Frauenzimmer in Freiburg und Lagaya in Stuttgart richten ihr Angebot ausschließlich an Frauen und Mädchen und berücksichtigen deren speziellen Bedarfe gezielt. Andere Suchtberatungsstellen leisten durch genderspezifische Angebote einen Beitrag, um niederschwellig für Frauen zugänglich zu sein. So gibt es beim Drogenverein Mannheim (DVM) ein Zeitfenster, in dem der Kontaktladen ausschließlich für Frauen geöffnet ist und besondere Angebote für Frauen vorhält.
Louisa Mielenz, Sozialarbeiterin beim DVM sagt dazu: „Mit dem frauenspezifischen Angebot wurde ein geschützter Raum für Klientinnen geschaffen. Ich erlebe, dass die Besucherinnen hier ein besonderes Gefühl von Sicherheit entwickeln, um auch sensible Themen offen ansprechen zu können.“
Partnerinnen oder Mütter von suchtkranken Menschen
Überproportional oft sind es die Partnerinnen oder die Mütter, die Kontakt zur Suchthilfe aufnehmen, um Hilfe für sich und ihre Angehörigen zu suchen. Auch hier greift das Stigma der Suchterkrankung, wenn eine Frau Scham empfindet über das Trinkverhalten ihres Partners zu sprechen. Oder sich fragt, ob sie Schuld trägt für die Suchtprobleme ihres Kindes. Sie erleben die betretenen Blicke in der Familie oder dem Freundeskreis und stellen angesichts verharmlosender Kommentare „Übertreib doch nicht. Jeder trinkt gerne mal ein Schlückchen“ schließlich auch ihre eigene Wahrnehmung in Frage.
Belastungen durch die Abhängigkeitserkrankung eines nahen Angehörigen sind enorm und gehen zu Lasten der Gesundheit. Depression, Burnout, Migräne, Erschöpfungszustände sowie zunehmende Isolation beeinträchtigen Angehörige massiv.
Die Suchthilfestatistik BW bildet Informationen über die Menschen ab, die in den rund 100 Suchtberatungsstellen Beratung wahrgenommen haben
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lt. DHS 1,5 – 1,9 Mio.
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Vogt, I./Fritz ,J./Kuplewatzky, N.: Süchtige und von Gewalt betroffene Frauen: Nutzung von formalen Hilfen und Verhaltensmuster bei Beendigung der Gewaltbeziehung. gFFZ Online-Publikation Nr. 4 (2015)
Beitrag aus ParitätInform 1/2023