Es mag reißerisch klingen, dass die Stigmatisierung von Menschen tödlich wirken kann. Aber tatsächlich ist dies der Fall: So nehmen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, Hilfsangebote aus Angst vor weiterer Diskriminierung häufig nicht wahr – teils mit drastischen Folgen. Dazu zählen beispielsweise Menschen mit Sucht oder psychischen Erkrankungen, aber auch Menschen in der Prostitution.
In seiner grundlegenden Studie Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (1967) schreibt der Soziologe Erving Goffman, bei einem Stigma handle es sich um ein körperliches Zeichen, das auf etwas Ungewöhnliches oder moralisch Schlechtes verweist. Es ist etwas zutiefst Diskreditierendes, ein Brandmal. Bei der Stigmatisierung handelt es sich also um eine Form der Zuschreibung von – zumeist – negativen Eigenschaften. Sie beinhaltet Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung und betrifft häufig soziale Randgruppen. Menschen in der Prostitution erleben Stigmatisierung, da ihre Tätigkeit gesellschaftlichen Normen zuwiderläuft. So haben sie beispielsweise Sex mit Fremden, tauschen Sex gegen Geld, Frauen entsprechen nicht dem für sie vorgesehenen Rollenbild einer passiven weiblichen Sexualität, sie sind Expert*innen für Sex etc..
Konkrete Beispiele von Stigmatisierung und deren Folgen
Die Stigmatisierung von Menschen in der Prostitution hat weitreichende Konsequenzen. Aus Angst davor, aufgrund ihrer Tätigkeit diskriminiert zu werden, sehen sich zahlreiche Menschen in der Prostitution dazu gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Familie, Freunde, das soziale Umfeld, niemand oder nur wenige sollen davon wissen. Ein solches Doppelleben aufrecht zu erhalten, aber auch die Angst davor, geoutet zu werden, ist kräftezehrend und kann zu sozialer Isolation und emotionaler Erschöpfung führen. Deutlich wurde diese Problematik auch im Rahmen des von der Werkstatt PARITÄT durchgeführten Kooperationsprojekts „WORKS – Alternativen für Menschen in der Prostitution“ (1. Juli 2021 bis 31. Dezember 2022). Immer wieder wurde die „Lücke im Lebenslauf“ zum Thema. Wie kann eine mehrjährige Tätigkeit in der Prostitution potentiellen neuen Arbeitgebern plausibel gemacht werden – oder sollte man sie besser verheimlichen?
Im Rahmen des Projekts wurde aber auch noch eine andere Folge der Stigmatisierung deutlich: „Wir erleben, dass sich Frauen, die zu uns in Beratung kommen, gar nicht zutrauen, etwas anderes zu machen. Das Selbstwertgefühl unserer Klient*innen ist aufgrund von Diskriminierungserfahrungen oft völlig am Boden“, so Elisabeth Sittner, Sozialarbeiterin bei Arkade in Ravensburg. Und auch der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Bundesmodellprojekt: Ausstieg aus der Prostitution bestätigt: „Die Ausgrenzung und Entwertung von Sexarbeiter*innen schafft Barrieren, die eine Aufgabe der Prostitution und einen Neubeginn in einem anderen Berufsfeld ganz erheblich erschweren.“
Genanntes soll beispielhaft verdeutlichen, wie negativ sich die Stigmatisierung auf das alltägliche Leben von Menschen in der Prostitution auswirkt. Aber auch Verallgemeinerungen, wie sie in Gesetzestexten, der Politik und den Medien vorgenommen werden, zeichnen ein stereotypes, diskriminierendes Bild. Denn: Nicht alle Menschen in der Prostitution haben den Wunsch umzusteigen; nicht alle Prostituierte sind Opfer von Zwang und Gewalt; nicht alle Prostituierte sind auf dem Straßenstrich tätig – und doch wird genau das immer wieder nahegelegt.
Empowerment und Sensibilisierung für Menschen in der Prostitution
Seit Januar 2023 laufen unter dem Dach der Werkstatt PA- RITÄT zwei neue Projekte im Themenfeld „Prostitution“. Mit seinem individuellen, durch Gruppenaktivitäten ergänzten Beratungsangebot nimmt „WORKSplus – Perspektiven für Menschen in der Prostitution“ den Faden dort auf, wo das Projekt WORKS endete. Es richtet sich an all jene Menschen in der Prostitution, die eine neue berufliche Perspektive wünschen. „SELMA – Sensibilisierung und Empowerment für Menschen in der Prostitution“ steht auf zwei Beinen: Zum einen bietet das Projekt niedrigschwellige Verweisberatung für die Menschen in der Prostitution, die unter besonders prekären Bedingungen arbeiten. Zum anderen hat es im Sinne der Anti-Stigma-Arbeit zum Ziel, die Öffentlichkeit sowie (künftige) Mitarbeiter*innen von Behörden zu informieren und zu sensibilisieren. Geplant sind Veranstaltungen, Workshops sowie Kampagnen in den sozialen Medien. Beide Projekte verpflichten sich einem gender- und kultursensiblen
Ansatz, der sich dem Weitertragen von Stereotypen und Diskriminierung entgegenstellt. „Bei der Arbeit in unseren vergangenen Projekten im Bereich Prostitution wurde deutlich, wie wichtig ein ganzheitliches Beratungsangebot ist. Es freut uns daher sehr, dieses Angebot mit WORKSplus und SELMA zusammen mit unseren bewährten Projektpartnern fortzuführen und auszubauen“, so Lydia Kissel, Geschäftsführerin der Werkstatt PARITÄT.
Die Projekte SELMA und WORKSplus richten sich an alle Geschlechter, also auch Männer und trans Personen. Fakt ist aber, dass über 90 Prozent der in der Prostitution Tätigen Frauen sind.
Weitere Informationen
SELMA ist ein überregionales Netzwerkprojekt der Werkstatt PARITÄT und wird umgesetzt gemeinsam mit Arkade in der Bodenseeregion sowie der Aidshilfe Tübingen-Reutlingen. Das Projekt wird im Rahmen des Programms „EhAP Plus – Eingliederung hilft gegen Ausgrenzung der am stärksten benachteiligten Personen“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Europäischen Union über den Europäischen Sozialfonds Plus gefördert.
Auch bei WORKSplus handelt es sich um ein überregionales Netzwerkprojekt der Werkstatt PARITÄT. Umgesetzt wird es gemeinsam mit der Aidshilfe Pforzheim, dem ebenfalls in Pforzheim ansässigen Sozialunternehmen Q-Prints & Service sowie Arkade. WORKSplus wird durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds Plus unterstützt.
Christiane Bernhardt
Öffentlichkeitsarbeit & Sensibilisierung SELMA
Julia Sverak
Koordination SELMA
Beitrag aus Parität 1/2023