Koordinations- und Opferberatungsstelle für queere Menschen

Fachinformation - geschrieben am 12.07.2023 - 11:34
zwei Hände mit Regenbogenarmbändern formen ein Herz

Isabelle Melcher berät in ihrer Praxis zu Transsexualität, Transgender und Intergeschlechtlichkeit. Und sie weiß: So Manches ist auf dem Weg – aber der ist noch lang.

„Die lange vergessene Gruppe soll endlich Hilfe bekommen!“ Isabelle Melcher beschreibt lei­denschaftlich, wie sie und ihre Mitstreiter*innen ein trauriges Kapitel bekämpfen: die (vielfach sexualisierte) Gewalt gegen queere Personen. In einem neuen Landesprojekt, unterstützt vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden­Württemberg, sollen Koordina­ tions­ und Opferberatungsstelle für queere Menschen eingerichtet werden. Über 20 Prozent derer erlebten Gewalt. 90 Prozent davon zeigten die Übergriffe nicht an. „Das darf nicht sein“, betont die Heilpraktikerin für Psychotherapie und TTI­Expertin. Melcher berät in ihrer Ulmer Praxis zu Transsexualität, Transgender und Intergeschlechtlichkeit. „Ich hoffe, in den eineinhalb Jahren Projektlaufzeit weitere Partner*innen und Fachberatungseinrichtungen an vielen Orten in Baden­Württemberg zu finden, um Trans­, inter­ und Nicht­Binäre Personen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, zu unterstützen. Das Projekt muss Betroffene dazu bringen, dass sie sich wehren.“ Und die Ansprechpersonen dazu hätten im besten Fall queeren Hintergrund.

Melcher ist froh, dass es bei der Polizei eine Stelle für queere Aspekte gibt. „Eine Neuerung der vergangenen Jahre“, resümiert sie den erfolgreichen Vorläufer: Vom Sozialministerium gefördert entstanden Beratungsstellen für trans, inter und nicht-binäre Menschen. Doch nicht alle größeren Städte seien schon dabei, das Stadt-Land-Gefälle sei groß. Insgesamt in zwölf Städten, darunter Stuttgart, Mannheim, Freiburg und Tübingen, gibt es Peer-Beratungsstellen und psychosoziale Fachberatungseinrichtungen mit therapeutisch-pädagogisch geschulten Mitarbeitenden. Fünf der Stellen seien transspezifisch ausgerichtet. Zudem geben Melcher und ihre Kolleg*innen Fortbildungen, machen Veranstaltungen für medizinisch, pädagogische und therapeutische Einrichtungen, Behörden und Unternehmen in Baden-Württemberg.

„Das läuft, ist eine große Bereicherung. Das Teilprojekt der organisationsnahen Beratung ist Monate im Voraus ausgebucht. Die Nachfrage an Veranstaltungen ist enorm. Ich würde mir wünschen, dass wir von der Projekt- in die Regelfinanzierung kämen.“

Getan hat sich einiges – dennoch ist noch viel zu tun

Ihre Klient*innen zögen zum Outing nach wie vor in größere Städte, fühlten sich auf dem Land oft unglaublich allein. Auch Eltern nähmen große Wege in Kauf, um etwa zu Melchers Praxis nach Ulm zu kommen, wo ihr Schwerpunkt auf Gesprächs- und systemische Therapie liegt. Oder sie brin- gen ihre Kinder und Teenager zu ihren Jugendgruppen. Mit einem Kollegen der Beratungsstelle Plus in Mannheim hat sie den queeren Jugendverband von Baden-Württemberg

„Queer Future“ gegründet. In Ulm hat sie ihre eigene Jugend- gruppe: TeenGender war die erste reine trans Jugendgruppe in Baden-Württemberg. „Mehr als 150 Kids aus sehr großem Einzugsgebiet kommen. Wir sind immer noch die größte trans Jugendgruppe, treffen uns wöchentlich, machen Aktionen, Spieleabende, Kunstworkshops, Eventtage, Zeltfreizeit und vieles mehr.“ Auch im Landesbeirat ist Melcher aktiv – und im Vorstand des queeren Berufsverbands VLSP*! für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie e.V.

Unwahre Narrative und Falschaussagen nehmen zu

Bei allem Positiven gebe es noch viele Wermutstropfen. Man müsse gegen unwahre Narrative und Falschaussagen vorgehen, die in den vergangenen Jahren zugenommen hätten. Diese können zu dem Anstieg verbaler und körperlicher Angriffe auf queere Personen in den letzten Jahren beigetragen haben. Falsch sei etwa, dass viele ihre Geschlechtsangleichung wieder rückgängig, also eine Retransition machten. Die Zahl sei laut Melcher verschwindend gering. Anders als das manche Kreise Glauben und sos Stimmung machen wollten. Etwa unter TERFs, also „Trans-Exclusionary Radical Feminist“: scheinbare Feministinnen, die trans Personen explizit ausschließen. Auch die Aussage, dass die unter 16-Jährigen trans Personen vor allem Jungs seien, sei verkürzt, so Melcher. „Das gleicht sich später an.“ Die Evaluation der Hamburger Beratungsstelle 4Be TransSuchtHilfe zeigt, dass Mädchen aufgrund patriarchaler Strukturen und Diskriminierungserfahrung fünf bis sechs Jahre nach den Jungs ihr Coming-out hätten.

Dort versucht man mit einem Aufbaustudiengang mehr Kolleg*innen auszubilden. „Das Dilemma ist, dass wir zu wenig Therapeut*innen haben, die sich an das Thema herantrauen.“ Es gebe viel zu wenig Kassensitze bei immenser Nachfrage nach Therapieplätzen. „Ein halbes Jahr warten die Klient*innen darauf; geht es um Spezialisierung oder besondere Methoden, kann es bis zu einem Jahr dauern.“

Zumal der Zeitpunkt des Coming-outs sich mehr Richtung Jugend verschiebe. „Ich war damals froh, dass ich ein Buch in der Bibliothek und einen Begriff dazu gefunden habe. Heute sind viel mehr Informationen verfügbar – im Internet, auf YouTube, in Foren und anderswo, du merkst, du bist nicht allein.“ Auch die Akzeptanz habe sich verändert, queere Jugendarbeit werde von Politik ernst genommen. Und die meisten Schulen, mit denen sie kooperiere, unterstützten super. Das Thema Queerness müsse in Ausbildung und Weiterbildung von Lehrenden, so die Therapeutin.

Neues Selbstbestimmungs-Gesetz soll alle Ungleichheiten ausräumen

„Da werden Untersuchungen nicht richtig bis zu Ende zitiert oder umgedeutet. Dann Studien genannt, die es gar nicht gibt.“ Unrichtig sei zudem, dass transweibliche Personen in Schutzräumen für Frauen eine Gefahr darstellten. „Da wird Täter*innen-Opfer-Umkehr betrieben. Alle Studien zeigen, dass transweibliche Personen viel stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind wie Cis-Personen.“ Das Thema Schutzräume gehöre nach ihrer Einschätzung daher aus dem Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes gestrichen, welches das Transsexuellengesetz (TSG) ablösen soll. „Das TSG ist komplett binär und bedeutet massive Fremdbestimmung.“ Noch brauchen trans Personen zwei psychiatrische Gutachten, bis zu 1500 Euro teurer, und eine Anhörung vor Gericht, um Name und Geschlechtseintrag im Personenstand zu ändern. Dabei urteilte das Bundesverfassungsgericht oft, dass das TSG gegen Grundrechte verstoße. „Trotzdem, nichts ist passiert!“, so Melcher. Sie hofft, dass mit dem Selbstbestimmungs-Gesetz nun alle Ungleichheiten der Vergangenheit angehören. „Denn Nicht-Binäre Personen haben aktuell juristisch überhaupt keinen sicheren Weg, müssen klagen.“

Isabelle Melcher

Heilpraktikerin für Psychotherapie, Beratung

TTI – Beratung zu Transsexualität, Transgender und Intergeschlechtlichkeit

 

Beitrag aus ParitätInform 1/2023

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