Recht auf gesellschaftliche Teilhabe schließt Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben ein
Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Arbeit und berufliche Bildung. Es ist nicht an Voraussetzungen gebunden. Auch Menschen mit einem höheren Unterstützungsbedarf dürfen davon nicht ausgeschlossen werden (Art. 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung). Von einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld als Voraussetzung dafür, ist Deutschland allerdings laut Staatenbericht noch weit entfernt.
In den Integrations-Werkstätten-Oberschwaben (IWO) arbeiten ca. 200 Menschen mit einer Behinderung. Mindestens 45 von ihnen haben einen höheren Unterstützungsbedarf. Das Angebot der IWO ist breit gefächert: „Jeder, der arbeiten möchte, soll arbeiten können“.
Zum Thema Recht auf Arbeit sprach Heike Händel, Referentin für Teilhabe am Arbeitsleben im Paritätischen Baden-Württemberg, mit Michael Kohler (30 Jahre alt, seit 2012 in der Werkstatt der IWO), Annalena Vollmar (25 Jahre alt, seit ca. einem halben Jahr im Berufsbildungsbereich der IWO), Loredana Mignano (34 Jahre alt, technische (Teil-) Zeichnerin, seit 2011 in der Werkstatt der IWO und Mitglied im Werkstattrat). Alle drei haben einen höheren Assistenzbedarf, viele Kompetenzen und auch Erfahrungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gemacht. Weitere Gesprächspartner waren Stefan Barczefeld (seit 2005 Bereichsleitung Produktion und Dienstleistung) und Elina Binder (seit 2020 Bereichsleitung Fördergruppen und Begleitende Dienste).
Wie sieht höherer Unterstützungsbedarf aus?
Was man sich unter einem höheren Unterstützungsbedarf vorstellen muss, ist nicht so einfach zu beantworten, ohne schnell in Schubladen zu denken. „Der Bedarf kann ganz unterschiedlich sein und ist immer individuell“, sagt Elina Binder. Ein höherer Unterstützungsbedarf ist – unabhängig von Art oder Ursache der Behinderung – einfach ein „Mehr“ an notwendiger Assistenz und individueller Unterstützung.
„Wir haben den Anspruch, auch Menschen mit höherem Bedarf zu beschäftigen,“ betont Stefan Barczefeld, „das haben wir uns zur Aufgabe gemacht.“ Er erklärt: „Die Herausforderung ist: Wie können wir die Arbeit so gestalten, dass jemand überhaupt daran teilhaben kann. Braucht jemand eine individuelle Assistenz oder spezielle Vorrichtungen?“ Elina Binder ergänzt: „Wir arbeiten ganz viel mit Vorrichtungen. Wir haben einen Kollegen für den Vorrichtungsbau, der immer individuell guckt, was für eine Vorrichtung gebaut werden kann, damit jemand die Tätigkeit z. B. einhändig ausführen kann. Das braucht Zeit und viel individuelle Anpassung.“ „Wir haben Mitarbeitende, die sind nur in der Lage, mit den Füßen zu arbeiten. Da sind spezielle Vorrichtungen notwendig und die Arbeit findet am Boden statt, nicht am Tisch.“ erklärt Stefan Barczefeld. „Da ist viel Kreativität gefragt.“ Und auch diese Frage stellt sich: „Welche Arbeit können wir überhaupt anbieten?“
Gegenseitige Hilfe als gelebtes Miteinander
Annalena Vollmar findet schön, „dass es bei der IWO verschiedenste Menschen gibt, Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen“ und dass sie sich gegenseitig unterstützen: „der eine kann das, der andere kann es nicht. Die anderen helfen mir bei Dingen, die ich nicht kann, ich helfe, wo ich kann.“
„Die Kolleg*innen versuchen sich hier auch gegenseitig zu helfen. Das ist bei uns ein Miteinander“, freut sich auch Michael Kohler und ergänzt: „Ich versuche, immer erst mal alles selbst zu machen. Es ist ein besseres Gefühl, wenn man es selber macht, bevor man jemanden fragt, „kannst du mir bitte helfen“. „Das Schöne an der IWO ist: da ist für jeden etwas dabei“, bestätigt auch Loredana Mignano und ergänzt „Ich fühle mich wohl, bei dem, was ich mache. Mir macht es Spaß.“ Dass es ihm wichtig ist, zu arbeiten, betont auch Michael Kohler: „Mir gibt es ein gutes Gefühl, ich habe heute etwas geleistet, ich habe heute etwas getan.“
Viel Druck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
Loredana Mignano ist der geschützte Rahmen der Werkstatt wichtig. In dem halben Jahr, in dem sie im Büro eines Rehazentrums gearbeitet hat, hat sie starken Druck empfunden. Annalena Vollmar, deren Behinderung weiter fortschreitet, bestätigt das: „Es wird einem weniger zugetraut. Man fühlt sich mehr unter Druck gesetzt. Ich habe mich selber unter Druck gesetzt, weil die anderen viel schneller arbeiten können. Es gibt einem ein schlechtes Gefühl, wenn man nicht mit den anderen mithalten kann. Man möchte ja selbst normal sein.“
Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt hat viele Hürden. Nicht alles ist nur eine Frage der Finanzierung (um die immer gerungen werden muss), sondern auch, wie Unterstützung in der Praxis organisiert werden kann: für die Toilettenassistenz müsste z. B. jemand vor Ort sein, der die Unterstützung bei Bedarf leisten kann.
Loredana Mignano ist überzeugt, dass auf dem Arbeitsmarkt noch viel passieren muss. „In der Praxis sind wir von Inklusion weit entfernt“. Auch Stefan Barczefeld sieht den ersten Arbeitsmarkt nicht in der Lage, die Menschen aufzunehmen: „Er ist nicht inklusiv. Die Werkstatt ist für viele das Richtige. Es gibt bisher keine bessere Alternative für diesen Personenkreis.“
Loredana Mignano befürchtet, dass viele Menschen ohne Werkstätten überhaupt keine Integration hätten. Die Schließung der Werkstätten während der Corona-Pandemie 2020 hat dies deutlich gezeigt. Auch für Annalena Vollmar ist die Werkstatt wichtig. „Viele kommen wieder und sind erleichtert, dass sie wieder einen geschützten Rahmen haben und in dem Tempo arbeiten können, wie es ihnen möglich ist. Das soziale Umfeld der Werkstatt ist wichtig, dass sich niemand ausgegrenzt fühlt und dass man die Unterstützung bekommt, die man braucht. Da ist man aufgehoben.“
Werkstätten bieten geschützten Rahmen
„Für die Menschen muss es das Richtige sein.“ betont Stefan Barczefeld. „Unser Anspruch in der IWO ist es, jedem, der es möchte, Teilhabe an Arbeit zu ermöglichen und einen Rahmen zu bieten, der dies möglich macht. Aber: „Wir kriegen nicht finanziert, was wir an Aufwendungen haben und leisten.“ Sein Wunsch ist mehr Vertrauen in die Fachlichkeit der Werkstätten und eine bessere Finanzierung, „um allen die Teilhabe vernünftig zu ermöglichen“.
Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022