15.09.2023 Gemeinnützigkeit als Gegenentwurf

Publikation - geschrieben am 08.01.2024 - 15:20

Impulsbeitrag zur Veranstaltung des Paritätischen Regionalverbunds Mittelbaden am 15.09.2023

„Gemeinnützigkeit als Gegenentwurf - Freie Wohlfahrtspflege und Gesellschaft“

In Vorbereitung auf diesen Impuls habe ich mich gefragt, was macht die freie Wohlfahrtspflege besonders und vor welchen Herausforderungen stehen wir? Für mich als Sozialpolitische Vorständin des Paritätischen Landesverbandes ist die freie Wohlfahrtspflege unverzichtbarer Teil der sozialen Daseinsvorsorge. Unverwechselbare Merkmale sind der Einsatz und das ehrenamtliche Engagement für Menschen. Freie Wohlfahrtspflege ist die lebendige Zivilgesellschaft in ihrer organisierten Form, unabdingbar für den sozialen Zusammenhalt und um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Pandemie, Flüchtlingswelle, soziale Schere, Armut, Pflegenotstand gezielt anzugehen.
In den vergangenen und aktuellen Krisen wie Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise war und ist auf die Freie Wohlfahrtspflege stets Verlass. Wir sorgen dafür, dass niemand durch das soziale Netz fällt oder einfach vergessen wird. Wir sichern soziale Hilfe, Teilhabe, Inklusion und Partizipation für alle Menschen. Im Paritätischen Baden-Württemberg leisten 50.000 Ehrenamtliche und 80.000 Hauptamtliche täglich Großartiges! Alle Wohlfahrtsverbände zusammen bilden den größten Arbeitgeber im Land Baden-Württemberg.
Aktuell ist die Sozialwirtschaft allerdings in Gänze unter extremem Druck. Herausforderungen sind steigende Kosten wie Personal- und Energiekosten, Kosten für Material und vieles mehr. Der Paritätische Landesverband hat in seiner Mitgliedschaft eine Vielzahl von Kleinstvereinen mit niederschwelligen Beratungsangeboten wie Suchtberatung, Schuldnerberatungen, Selbsthilfekontaktstellen sowie Angebote der Jugendarbeit und der Jugendverbandsarbeit, Schulsozialarbeit, Erziehungsberatungsstellen, Freiwilligenbüros – um nur einige zu nennen. Die Existenz dieser Organisationen und ihrer Angebote ist abhängig von der kommunalen Zuschussfinanzierung, den sog. „Freiwilligkeitsleistungen“.
Diese Leistungen geraten allerdings als erstes in Bedrängnis, wenn die finanziellen Mittel gekürzt werden oder wenn sie nicht mehr reichen, um die steigenden Kosten bspw. Energie oder Miete zu decken. Die niederschwelligen Angebote verschwinden dann schnell und ersatzlos. Gleichzeitig steigt der Bedarf, aber die Angebote müssen reduziert werden, weil sie nicht ausreichend finanziert sind. Ich finde es daher besonders problematisch, dass es keinen individuellen Rechtsanspruch auf Fortbestand und angemessene Zuschussfinanzierung gibt. Es gibt keinen Vertrauensschutz für die kommunalen Zuwendungen über den Zeitraum konkreter Zusagen (z.B. im Rahmen eines Förderbescheides) hinaus.
Dies ist für unsere sozialen freien Träger vollkommen unbefriedigend und teils existenziell bedrohlich. Die kommunalen Freiwilligkeitsleistungen müssen daher zu „Selbstverständlichkeitsleistungen“ werden! Sie wurden nicht ohne Grund ins Leben gerufen und werden dringend zur Aufrechterhaltung der erforderlichen sozialen Dienstleistungen für die Menschen im Land benötigt.
Die geplanten drastischen Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 werden zudem gesellschaftliche Probleme verschärfen, wir müssen deshalb noch stärker für die Bedeutung der sozialen Arbeit in der Gesellschaft sensibilisieren.
Eine aktuelle Studie aus dem Bereich der Suchthilfe besagt zum Beispiel, dass ein Euro für soziale Arbeit in der Suchthilfe 17 Euro Folgekosten spart, weil man Menschen begleitet hat, sie zum Beispiel wieder in Arbeit bringt und sie von Sucht befreit. Das ist der sogenannte Social Return on Investment, kurz SROI. Das heißt, das, was eingesetzt wird, hilft Folgekosten deutlich zu reduzieren.
Das heißt Haushaltsmittel müssen zur Verfügung gestellt werden: auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
Darüber hinaus: wenn das Land Baden-Württemberg eine Fachkräfteallianz mit Indien schmiedet, darf nicht nur an die Wirtschaft gedacht werden, sondern gleich auch an die Sozialwirtschaft. Sie braucht genau so dringend Arbeits- und Fachkräfte.
Der Paritätische und seine Mitgliedsorganisationen wollen für soziale Gerechtigkeit einstehen, Armut bekämpfen und für eine konkrete Verbesserung der Lebenssituationen von jedem einzelnen Menschen sorgen. Aber dies ist uns und unseren Mitgliedern nur möglich, wenn der Staat seiner Verantwortung gerecht wird. Schließlich ist die freie Wohlfahrtspflege in unserer Landesverfassung fest verankert. Aber die vielen gemeinnützigen Sozialunternehmen müssen dafür finanziell unterstützt werden, ansonsten ist die soziale Infrastruktur unserer Gesellschaft gefährdet.
Was bedeutet Gemeinnützigkeit und Freie Wohlfahrtspflege genau?
„Freie Wohlfahrtspflege" ist die Gesamtheit aller sozialen Hilfen, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates.
Der Gesetzgeber definiert die Wohlfahrtspflege als „die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen […]“.
Gemeinnützige Organisationen der Wohlfahrtspflege werden in unterschiedlichen Rechtsformen bspw. als Verein oder GmbH betrieben. Die Gemeinnützigkeit können sie erlangen, wenn sie nach ihrem Satzungszweck gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Natur sind. Dabei muss der Zweck selbstlos , ausschließlich sowie unmittelbar verfolgt werden. Zudem muss die Tätigkeit auf die Förderung der Allgemeinheit gerichtet sein.
Zu den gemeinnützigen Zwecken gehören bspw. Förderung der Jugend- und Altenhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderung, des Wohlfahrtswesens, der Wissenschaft und Forschung, der Bildung und Erziehung, des Umwelt- und Klimaschutzes, des bürgerschaftlichen Engagements. Außerdem kann die Organisation mildtätige Zwecke verfolgen, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, hilfsbedürftige Personen selbstlos zu unterstützen.
Gemeinnützige Organisationen dürfen keine eigenwirtschaftlichen Zwecke verfolgen. Grundsätzlich muss die gemeinnützige Organisation ihre Mittel für die satzungsmäßigen Zwecke einsetzen. D.h. die Gewinne der gemeinnützigen Einrichtungen fließen nicht in die Taschen Einzelner, sondern wieder ins Gemeinwohl.
Im Gegenzug zu diesen Geboten, sind die gemeinnützigen Organisationen von bestimmten Steuern befreit. Zudem können sie Spenden einwerben, die der Spender steuerlich geltend machen kann.
Zusammenfassend: Gemeinnützigkeit ist das Fundament auf dem die freie Wohlfahrtspflege und damit auch der Paritätische und seine über 900 Mitgliedsorganisationen stehen. Gemeinnützigkeit ist mehr als ein steuerlicher Status: Sie markiert eine Haltung, gekennzeichnet durch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, zur aktiven Mitgestaltung des Sozialen und zur Übernahme von Verantwortung für sich und andere. Ziel gemeinnütziger Arbeit ist nicht Gewinnmaximierung, Überschüsse werden nicht an Aktionäre oder Gesellschafter ausgeschüttet, sondern wieder in soziale Arbeit, in den Satzungszweck, investiert. Für mich sind der Status der Gemeinnützigkeit und die damit verbundenen gesetzlichen Anforderungen an die Organisationen ein Gütesiegel.
Subsidiarität als Leitprinzip
Ein wichtiges und grundlegendes Leitprinzip für die Freie Wohlfahrtspflege ist dabei das Subsidaritätsprinzip. Es bedeutet, dass das, was der Einzelne, die Familie oder Gruppen und Körperschaften aus eigener Kraft tun können, darf weder von einer übergeordneten Instanz, noch vom Staat geleistet werden. Der Staat soll nur dann selbst soziale Dienstleistungen erbringen, wenn andere dazu nicht in der Lage sind. Der Subsidiaritätsgrundsatz sichert Vielfalt in den Angeboten und damit das freie Wunsch- und Wahlrecht. Aufgabe des Staates ist es damit, den dafür erforderlichen Rahmen zu schaffen, insbesondere die Finanzierung zu sichern.
Leider wurde dieser Vorrang der Freien Wohlfahrtspflege auf gewerbliche Anbieter ausgedehnt, weshalb sich zunehmend nach Profitinteressen strebende Anbieter in der Pflege, der Gesundheitsversorgung oder in anderen sozialen Bereichen finden, wo gewinnwirtschaftliche Interessen aus unserer Sicht nichts verloren haben. Menschlichkeit und Empathie, damit das werteorientierte Handeln, das den Menschen in den Fokus stellt, gerät in den Hintergrund. Und der Grundsatz gerät auch durch den Staat selbst unter Druck, indem er Kosten sparen und und soziale Dienstleistungen selbst anbieten will.
Dabei ist Gemeinnützigkeit eine starke Basis für eine solidarische Gemeinschaft
Die Grundstrukturen des Gemeinnützigkeitsrechts – Beschränkung auf Körperschaften, Definition der steuerbegünstigten Zwecke, Ausschließlichkeitsgrundsatz, Gewinnausschüttungs- und Begünstigungsverbot, Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung und satzungsgemäßes Handeln – prägen die Arbeit von gemeinnützigen Organisationen. Ziel ist nicht die Gewinnmaximierung, auch, wenn wir auf unsere Kosten und eine Refinanzierung achten müssen. Sondern uns geht es um eine Gesellschaft, an der alle teilhaben. Niederschwellige Beratungsangebote sind daher vorrangig in gemeinnützigen Organisationsformen zu finden. Bei gemeinnützigen Unternehmen stehen der Gewinn an Lebensqualität, Selbst- und Mitbestimmung, sowie Wahlfreiheit im Hinblick auf spezifische Leistungen im Vordergrund.
Mein Impuls für diese Veranstaltung
Die Arbeit der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege darf aufgrund der gesetzlichen Vorgaben der Abgabenordnung nicht von der Gewinnmaximierung oder eigenwirtschaftlichen Bestrebungen motiviert sein, sondern von Werten wie Vielfalt, Akzeptanz, Gemeinwohl und Solidarität. Das Ziel muss sein, die Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft zu fördern, bei der Bewältigung von sozialen Krisen zu helfen, und Gemeinschaft in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft zu stärken.
Daher ist Paritätische Überzeugung: Gemeinnützigkeit in diesem idealen Sinn bleibt ein Konzept mit Zukunft. In unserer verbandlichen Praxis haben wir dieses Ideal mit Leben zu füllen – auch gegen gelegentlichen Widerstand und trotz häufig widriger Umstände. Dazu gehört auch, die eigene Praxis regelmäßig zu überprüfen und immer wieder neue zeitgemäße Organisationsformen und Methoden zu finden, um unseren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Vielfach wird das natürliche Kreativitäts- und Innovationspotenzial gemeinnütziger Organisationen durch finanzielle Zwänge, Bürokratie und Reglementierung beschränkt. Dies bestärkt uns umso mehr in der Forderung nach besseren Rahmenbedingungen, damit sich das volle Potenzial gemeinnütziger Kreativität, Solidarität und Innovation im Interesse der Allgemeinheit voll und frei entfalten kann. Oder auch Hilfestrukturen zur Prävention beispielsweise zu Verhinderung von häuslicher Gewalt an Mädchen und Frauen dauerhaft gewährleistet sind, damit Leid, aber auch Folgekosten verhindert und reduziert werden.
Gemeinnützigkeit, als Form des Wirtschaftens, sollte deshalb in den Bereichen der Daseinsvorsorge, in Pflege, Gesundheit und sozialer Arbeit Vorrang haben. Stattdessen, meine Damen und Herren, Menschenwürde ist kein Konjunktiv! Und die Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur bedarf einer verlässlichen Partnerschaft zwischen Staat und Sozialwirtschaft, wenn wir einen starken Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und damit Zukunftsfähigkeit gewährleisten wollen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Impulsvortrag Gemeinnützigkeit

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