Stuttgart 17.11.2022 Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat einen Hilfsfonds für die soziale Infrastruktur in Höhe von 30 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Anlässlich der heute beginnenden Haushaltsberatungen im Finanzausschuss des baden-württembergischen Landtags bewerten der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg und soziale Organisationen diese Summe als deutlich zu niedrig und fordern eine deutliche Erhöhung der Mittel. Vor allem vor dem Hintergrund weiterer Hilfsmaßnahmen des Landes wie einem Bürgschaftsprogramm für Unternehmen für die kommenden beiden Jahre in Höhe von 2,6 Milliarden Euro, ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Unterstützung für die soziale Infrastruktur im Land so über die Maßen unauskömmlich ausfällt. Ohne eine ausreichende Finanzierung drohten weite Teile der sozialen Infrastruktur im Land und damit Hilfen, die dringend gebraucht werden, wegzubrechen. Gefährdet sei das gesamte Spektrum sozialer Einrichtungen und Dienste von Wohn- und Betreuungsangeboten für Menschen mit Behinderung und älteren Menschen, Werkstätten, Einrichtungen der Jugendhilfe, Straffälligenhilfe, Wohnungslosenhilfe, Beratungsstellen, Tagesstätten, Wärmestuben, Tafel- und Kleiderläden bis hin zu Kitas, so der Verband.
Ulf Hartmann, Vorstand des PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg: „Soziale Einrichtungen und Dienste haben besonders mit den drastischen Preissteigerungen für Strom und Heizung, aber auch den gestiegenen Lebensmittel- und Spritkosten zu kämpfen. Viele rechnen bei Gas und Strom mit einer Vervielfachung der Kosten und wissen nicht, wie sie diese finanzieren sollen. Als gemeinnützige Organisationen können sie zusätzliche Kosten nicht beliebig weitergeben oder die Mehrausgaben durch höhere Einnahmen decken. Auch Rücklagen können und dürfen nur begrenzt gebildet werden. Wie man an der Höhe des Sonderfonds von nur 30 Millionen Euro sehen kann, gibt es offenbar in Teilen der Landesregierung wenig Kenntnis über die wirtschaftliche Situation der sozialen Einrichtungen im Land. Anders können wir uns diese Summe nicht erklären. Um die soziale Infrastruktur und Versorgungssicherheit der Menschen nicht zu gefährden, ist eine deutliche Erhöhung der Mittel erforderlich, die den Belangen und Bedarfen sozialer Einrichtungen entspricht. Das Antragsverfahren muss unkompliziert sein und auch für individuelle Angebote gelten. Wie im Vorschlag der Kommission für den Bundesfonds müssen Hilfen auch rückwirkend für das Jahr 2022 gewährt werden, beispielsweise über ein antragsgesteuertes Verfahren, welches die Preissteigerungen der Sachkosten (nicht nur Energie) berücksichtigt. Darüber hinaus darf nicht wie bislang geplant, allein das Wirtschaftsressort über die Ausgestaltung des Landeshilfsfonds entscheiden. Um die spezielle Situation und die konkreten Bedarfe der sozialen Einrichtungen gut im Blick zu haben, ist aus unserer Sicht entsprechende Expertise notwendig und daher auch die Einbeziehung des Sozialministeriums und der Liga der freien Wohlfahrtspflege unumgänglich.“
Hans Artschwager, Geschäftsführer der Waldhaus gGmbH Sozialpädagogische Einrichtungen der Jugendhilfe Hildrizhausen: „Nachdem das Arbeitsfeld der Jugendhilfe schon in den letzten beiden Jahren stark belastet wurde, werden auch die steigenden Energiekosten ein enormer Kraftaufwand für die Branche. Jugendhilfe hat keine Lobby und wird oft im öffentlichen Diskurs vergessen. Doch wir können Kinder und Jugendliche erneut nicht einfach sich selbst überlassen. Auch bei den steigenden Energiekosten stehen Jugendhilfeträger unter Druck, da diese nicht durch Entgelte refinanziert sind. Strom- und Heizkosten werden sich mindestens verdreifachen. Eine Kompensation wäre hier dringend angezeigt, wir als Jugendhilfeträger fühlen uns dadurch finanziell alleingelassen.“
Thomas Kammerlander, Geschäftsführer der PräventSozial Justiznahe Soziale Dienste gemeinnützige GmbH in Stuttgart: „Wir arbeiten mit Menschen aus instabilen Verhältnissen, deren Leben von massiven Unsicherheiten - existenziell, familiär und persönlich - geprägt ist. In unseren Unterstützungsangeboten finden diese Menschen Struktur, Verbindlichkeit und Stabilität. Viele unserer Klient*innen sehen in uns eine sichere Anlaufstelle, die ihnen Stetigkeit und Standfestigkeit vermittelt. Doch die Entwicklungen in (Welt-) Politik und Gesellschaft bereiten uns zunehmend Sorgen: Inflationsentwicklung durch steigende Energiepreise und eine Teuerung in verschiedensten Lebens- und Arbeitsbereichen können von PräventSozial spürbar schwerer abgefangen werden. Wie auch? Mehreinnahmen oder die Bildung von Rücklagen ist für uns als gemeinnützige Einrichtung nur begrenzt möglich. Wir können auch nicht beispielsweise ohne Weiteres steigende Nebenkosten an unsere Klient*innen in unseren Betreuten Wohneinrichtungen weitergeben, die schon sonst kaum über die Runden kommen. Was passiert, wenn wir soziale Angebote aus finanziellen Gründen nicht mehr vorhalten können? Wenn unsere Klient*innen feststellen müssen, dass die Stetigkeit, auf die sie sich bei uns verlassen, bröckelt? Gerade in so krisenhaften Zeiten sollte eine Gesellschaft ihren Blick nicht von sozialschwachen Gruppen abwenden, sondern gegenteilig ihren Fokus noch mehr als sonst auf diese vulnerablen Personenkreise legen. Hierfür braucht unsere soziale Infrastruktur politischen Rückhalt - ideell und finanziell.“
Petra Röder, Geschäftsführerin der Reha Südwest Regenbogen gGmbH in Mannheim: „Die Versorgungssicherheit und damit auch die soziale Infrastruktur vor Ort muss aufrechterhalten bleiben. Menschen mit Behinderung, Kranke, Familien, Kinder und Senioren benötigen auch weiterhin eine ausreichende Versorgung. Daher müssen jetzt die Entgelte neu verhandelt und auch die kommunalen Freiwilligkeitsleistungen dynamisiert werden. Um Kosten einzusparen, werden, wo immer es möglich ist, Energiesparmaßnahmen umgesetzt. In unseren Kindertageseinrichtungen und im Schulkindergarten beispielsweise spielen Kinder auf dem Boden, krabbeln oder werden mobilitätseingeschränkte Kinder gelagert. Hier ist eine Absenkung der Raumtemperatur auf 19 Grad nicht möglich, damit die Kinder nicht auskühlen.“
Andrea Knerr, Einrichtungsleitung der Kinder- und Jugendhilfezentrum Wespinstift: „Die Preissteigerungen bei den Energie- und Lebensmittelkosten, aber auch bei Dienstleistungen und Handwerkern können von uns in diesem Maße auf längere Sicht nicht aufgefangen werden, da diese bei den letzten Entgeltverhandlungen mit den kommunalen Kostenträgern nicht abzusehen waren. Wir hoffen deshalb zum einen auf eine schnelle Anpassung der Entgelte im vereinfachten Verfahren, zum anderen benötigen wir jede Unterstützung des Landes aus dem zusätzlichen Hilfsprogramm, die uns wieder etwas „Luft verschafft“, um auch die, über die Betreuung hinaus, dringend notwendigen und immer teurer werdenden Renovierungen, Anschaffungen und Instandhaltungen tätigen zu können. Sollten sich jetzt keine positiven Veränderungen bezüglich der Finanzierung ergeben, sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Betrieb der Einrichtung zukünftig nicht im erforderlichen Maße gesichert. Auf längere Sicht könnten wir den Betrieb so nicht aufrechterhalten, was im schlimmsten Fall die Schließung von Angeboten zur Folge hätte.“