Baden-Württemberg braucht einen Pakt gegen Gewalt an Frauen

Pressemitteilung - geschrieben am 23.11.2022 - 13:30

Ulm/Stuttgart 23.11.2022       Der Bericht der Expertinnengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (GREVIO) zeigt erhebliche Defizite beim Schutz von Frauen vor Gewalt in Deutschland. Es fehlt an Frauenhausplätzen, Beratungs- und Interventionsstellen sowie einer ausreichenden Finanzierung. Deshalb fordern der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg und Frauen helfen Frauen e.V. in Ulm den flächendeckenden, bedarfsgerechten Ausbau an Hilfen sowie eine verlässliche auskömmliche Finanzierungsstruktur. In Baden-Württemberg waren schätzungsweise ca. 142.000 Frauen von Partnergewalt in den letzten zwölf Monaten betroffen. Das ergeben Berechnungen in Anlehnung an die Deutsche Prävalenzstudie 2004 sowie der FRA-Studie von 2014.

Dr. Katrin Lehmann, Referentin für Frauen und Mädchen beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg: „Jede von Gewalt betroffene Frau muss die Möglichkeit haben, schnell, unbürokratisch und ortsnah zu fachlicher Beratung oder auch Schutz in einem Frauenhaus zu finden. Das ist in Baden-Württemberg nicht gewährleistet. Es fehlt an einer flächendeckenden Versorgung an Frauenberatungsstellen und an Frauenhausplätzen. Gerade im ländlichen Raum zeigt sich noch immer ein großer Aufholbedarf an Beratungskapazitäten und Schutzplätzen. Das Land und die Kommunen weisen sich gegenseitig die Verantwortung für die Finanzierung guter Strukturen zu. So bleibt das System trotz innovativer Projekte mit befristeten Laufzeiten insgesamt instabil und unzureichend. Wir fordern das Land auf, gemeinsam mit den Kommunalen Landesverbänden den Bedarf im Land zu analysieren, eine Strategie für den Ausbau festzulegen und ein auskömmliches Finanzierungskonzept zu erarbeiten. Ohne passgenaue Hilfe und Begleitung vor Ort können sich viele Frauen aus ihrer gewaltgeprägten Lebenssituation nicht befreien.“

Dr. Ute Leidig, Staatssekretärin im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration: „Die Landesregierung bekämpft jegliche Formen von Gewalt gegen Frauen und bekennt sich klar zu dem am 1. Februar 2018 in Deutschland in Kraft getretene Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannte Istanbul-Konvention. Um die Istanbul-Konvention nachhaltig umzusetzen und auch neuere Gewaltformen, wie die digitale Gewalt, zu berücksichtigen, überarbeiten wir zurzeit unseren Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen. In Baden-Württemberg können wir auf ein gewachsenes, ausdifferenziertes und hochprofessionelles Frauenhilfe- und Unterstützungssystem zurückgreifen, das Tag für Tag entscheidende Arbeit im Kampf gegen Gewalt an Frauen leistet. Um diese wichtige Arbeit zu unterstützen, sind wir als Land in den letzten Jahren ganz stark in die Finanzierung der Hilfen eingestiegen. Trotz angespannter Haushaltslage konnten wir die Haushaltsmittel in den vergangenen fünf Jahren versechsfachen – auf knapp 12 Millionen Euro in diesem Jahr. Das ist ein großer Erfolg. Neben dem Ausbau der Frauen- und Kinderschutzhäuser werden wir auch an der freiwilligen Förderung des Ausbau der Fachberatungsstellen festhalten, damit Frauen zeitlich weit vor dem Frauenhausaufenthalt die Gewaltspiralen durchbrechen können.“

Anja Schlumpberger Geschäftsführung Frauen helfen Frauen e.V. in Ulm: „Für die Stadt Ulm bedeutet dies, dass die Interventionsstelle ausgebaut und die Kooperation mit der Polizei ausgeweitet werden muss. Jede Frau, zu deren Schutz ein polizeilicher Wohnungsverweis ausgesprochen wurde, muss ein Beratungsangebot unterbreitet werden können, damit sie ihre Möglichkeiten zu einem gewaltfreien Leben reflektieren kann. Im Alb-Donau-Kreis müssen die Angebote bei häuslicher und sexualisierter Gewalt ausgebaut werden. Für eine gute Versorgung im Landkreis ist mindestens eine Vollzeitstelle für die Beratung vorzuhalten. Es geht dabei um dezentrale Beratungen für Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Darüber hinaus geht es aber auch um Prävention, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung

Iris Mann, Bürgermeisterin der Stadt Ulm für Bildung, Soziales, Kultur und Sport: Die Zahlen zur Gewalt an Frauen und zu Femiziden auch in Deutschland macht immer wieder fassungslos. Es ist gut, dass diese inzwischen separat erfasst werden, so dass das Thema qualifiziert auf die politische Agenda gesetzt werden kann. Wir brauchen eine klare bundeseinheitliche gesetzliche Regelung zur unbürokratischen Finanzierung von Frauenberatungsstellen, Frauenhäusern und Gewaltschutzambulanzen - auch in der Fläche!"

Josef Barabeisch, Sozialdezernent des Landratsamtes Alb-Donau-Kreis: „Die Existenz und das Ausmaß häuslicher Gewalt an Frauen – durchgängig durch alle sozialen Schichten der Gesellschaft – macht immer wieder sprachlos. Es ist gut, dass sich hier regional und landesweit institutionsübergreifende Hilfesysteme zum Gewaltschutz entwickelt haben. Gerade auch im ländlichen Raum ist es wichtig, entsprechende Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten – auch präventiv. Es gilt dabei die Finanzierung der Frauenhäuser und Beratungsstellen – auch mit klarem Blick auf die Rechte der Kinder – auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen – bundesweit.

Pressekontakt Frauen helfen Frauen e.V. in Ulm: Anja Schlumpberger, Geschäftsführung, Tel. 0731/619906, E-Mail: a.schlumpberger@fhf-ulm.de

Hintergrundinformationen

Frauenhausfinanzierung in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg gibt es 44 Frauenhäuser, die alle eine eigene Leistungsvereinbarung mit ihrem Landkreis / Kommune haben. Es gibt einige Städte und Landkreise, die großzügig fördern und Frauenhäuser bürokratisch entlasten. Aber es gibt auch Landkreise, die Frauenhausaufenthalte befristen oder den Tagessatz nach einer gewissen Verweildauer senken. Es gibt Landkreise, welche keine Kosten für nicht-sozialleistungsberechtigte Frauen übernehmen, wie z.B. für Frauen in Ausbildung, Rentnerinnen, Frauen im ALG I Bezug. Die Rückforderung der Kosten bei den Herkunftslandkreisen wird dem Frauenhaus übertragen und die Notwendigkeit der Unterbringung muss wiederholt ausführlich begründet werden. Immer wieder bekommt ein Trägerverein die Kosten nicht oder nicht vollumfänglich erstattet. Der Fehlbetrag kann schnell in einen höheren fünfstelligen Bereich gehen und den Verein an die Grenze der Belastbarkeit bringen.

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