In der Landeserstaufnahmestelle (LEA) Heidelberg angekommen, atmet Fatima O. erleichtert auf. Vor rund zwei Jahren hat sie ihr Heimatland Nigeria verlassen – auf der Flucht vor einer Zwangsehe. Sie erinnert sich an die gefährliche Reise durch die Wüste nach Libyen und an das Martyrium dort – eine schreckliche Zeit, welche sich in Italien fortsetzte. Endlich in Deutschland angekommen, fühlt Fatima sich zum ersten Mal sicher. Sie hofft, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu erfahren.
In Baden-Württemberg ist das Aufnahmesystem für neu angekommene Flüchtlinge dreigliedrig. Erste Station für Asylbewerber*innen ist die Landes- erstaufnahmeeinrichtung, die vom Regierungspräsidium Karlsruhe betrieben wird. Das Regierungspräsidium steuert landesweit die Aufnahme, Unterbringung und Verteilung der dort registrierten Asylbewerber*innen. Auch erfolgt die Zuweisung in Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes sowie später in die Unterkünfte der Stadt- und Landkreise, die dritte Station.
Zurück zu Fatima O.: In der LEA wird sie von Mitarbeiter*innen empfangen und nach der formalen Asylantragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Regis- trierung geschickt. Im Anschluss wird sie auf übertragbare Krankheiten untersucht und erhält einen Schlafplatz in einem Mehrbettzimmer mit anderen Frauen. Nach sechs Wochen erhält Fatima einen Transfer in die Erstaufnahmestelle (EA) für besonders Schutzbedürftige in Tübingen.
Erstaufnahmestelle für besonders Schutzbedürftige
Zu dem Personenkreis der besonders Schutzbedürftigen gehören nach Art. 21 der EU-Aufnahmerichtlinie unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderung, Menschen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Schwangere, Alleinerziehende, Opfer von Menschenhandel, Folter oder psychischer, physischer und sexueller Gewalt sowie ältere Menschen. Die EA für besonders Schutzbedürftige hat der Aufnahmerichtlinie nach den Auftrag, besonders schutzbedürftige Geflüchtete zu identifizieren und angemessen zu versorgen [1].
Fatima O. wird in einem Doppelzimmer untergebracht. Sie ist verunsichert, da sie das Zimmer nicht abschließen kann. Je- derzeit kann das Zimmer von Fremden betreten werden, egal ob sie da ist oder nicht. Das macht ihr Angst. Beschämend für sie sind die wöchentlichen Zimmerkontrollen durch die Ange- stellten. Sie hat keinerlei sinnvolle Aufgaben und damit viel Zeit, um an all ihre schrecklichen Erlebnisse zu denken. Fati- ma berichtet von einigen Frauen, die viel weinen und nicht mehr aufstehen. Es gibt Abschiebungen mitten in der Nacht. Man hört die Polizei an die Tür klopfen, man hört Stimmen und man hört die Frau weinen, die mitgenommen wird.
Verwaltet und zur Unselbstständigkeit verdammt
Die Menschen, die berechtigt Schutz suchen und Hilfestellung benötigen, werden unter diesen Bedingungen nicht nach der Aufnahmerichtlinie als schutzbedürftig aufgenommen und versorgt. Sie werden im bestehenden System der Erstaufnahmestelle verwaltet, grundversorgt, in die Unselbstständigkeit gezwungen.
In der EA kümmert sich die Sozial- und Verfahrensberatung (SuV) um die Anliegen der Frauen bei der Alltagsbewältigung und beim Asylverfahren. Bei negativen Entscheidungen des BAMF können die Frauen Unterstützung außerhalb, zum Beispiel im Asylzentrum Tübingen e.V., suchen. Sie kommen in die Beratungsstelle, um in der kurzen Einwendungsfrist von meist einer Woche zu handeln, neue Hoffnung zu schöpfen und Perspektiven zu entwickeln. Die Frauen erhalten die Möglichkeit, in einer geschützten, vertrauensvollen Atmosphäre ihre Erlebnisse zu schildern, die dokumentiert und dem Gericht zugesandt werden. In Kooperation mit Fachanwält*innen erfolgt die Klageerhebung vor Gericht, die Entscheidungen des BAMF werden über- prüft – meist mit positivem Ergebnis für die Frauen. Dies verdeutlicht, dass die zuständigen Behörden nicht in der Lage sind, die notwendigen Schritte zur Feststellung von Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen vorzu- nehmen oder zu beachten, womit die Verfahrensgarantien von Art. 22 der EU-Aufnahmerichtlinie nicht gewährleistet werden.
Unterkunft in den Kreisen und Gemeinden
Von der EA führt der Weg die Asylsuchenden in die Stadt- und Landkreise. In diesen Unterkünften und Wohnungen bleiben sie bis zum Abschluss des Asylverfahrens – längstens für zwei Jahre. Die Menschen haben nun Kochmöglichkeiten. Es gibt häufig die Möglichkeit, Sprachkurse zu besuchen. Die Kinder gehen regulär zur Schule. Nach dem Ende der vorläufigen Unterbringung werden die Ge- flüchteten innerhalb des Landkreises auf die Gemeinden verteilt.
Endlich kommt Fatima O. an und hat die Möglichkeit, ihren Alltag zu gestalten und über ihr Leben mitzubestimmen. Sie besucht regelmäßig einen Sprachkurs und wünscht sich, irgendwann eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen. Nach zwei Jahren hat sie durch das Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht endlich Flüchtlingsschutz erhalten. Es war eine Zeit der Angst und Unsicherheit, die ihr erspart geblieben wäre, wenn sie von Anfang an angemessene Unterstützung erhalten hätte und als besonders schutzbedürftige Person identifiziert worden wäre. Fatima meint, sie hatte keine Zeit, sich auf die Anhörung vorzubereiten und man hätte ihr auch nicht geglaubt. Sie hatte keine Möglichkeit, vor ihrer Anhörung eine Fachärztin aufzusuchen, somit wurde ihre Schutzbedürftigkeit im Asylverfahren, bei der Unterbringung und Verteilung nicht berücksichtigt.
Keine angemessene Unterstützung
Die Umsetzung der Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie für besonders Schutzbedürftige wird im dreigliedrigen Aufnahmesystem in Baden-Württemberg nicht ausreichend gewährleistet. Die Identifizierung und Verfolgung von besonders schutzbedürftigen Personen muss im Aufnahme- und Asylverfahren rechtskonform und angemessen erfolgen. Außerdem müssen die besonderen Bedürfnisse bei der Unterbringung und bei der medizinischen und sozial-psychologischen Versorgung ausreichend beachtet werden.
Dringend notwendig ist die vollumfängliche Umsetzung der EU-Richtlinien und somit ein bedarfsgerechtes Konzept zur Identifizierung und Versorgung besonders schutz- bedürftiger Personen unter Einbeziehung aller Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen.