Am 20.11. fand im Tübinger Brückenhaus das 22. Sozialpolitische Fachforum (SoFa) des Paritätischen Kreisverbandes zu einem bisher im Landkreis strukturell nicht berücksichtigten sozialen Problem statt: Was geschieht mit Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden, wenn diese pflegebedürftig werden? Bestehende Seniorenzentren und Pflegeeinrichtungen sind auf die besonderen Bedarfe dieser Klientel nicht eingestellt; und aufgrund ohnehin knapper Pflege-Plätze haben Menschen mit besonderen Herausforderungen kaum noch eine Chance, dort versorgt zu werden – obwohl der Bedarf vielleicht sogar ein größerer ist.
Die Veranstaltung wurde eröffnet durch die Wilde Bühne Stuttgart, die eine eindrückliche theatralische Darstellung der unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge zum Thema bot: Einerseits der betroffene Mensch mit all seinen Zweifeln und Nöten, andererseits die (visuell wortwörtlich dahinter stehenden) Zwänge des Systems und die Ambivalenz der Betreuenden, die sich immer wieder im überlagernden Sprechchor vermischten und aufschaukelten.
Hauptteil des Abends war die Präsentation einer bereits in diesem sozialen Segment tätigen Einrichtung: Haus Maria Veen des Vereins für katholische Arbeiterkolonien Westfalen. Ursprünglich in der Wohnungslosenhilfe tätig ergab sich dort bereits vor Jahren das Problem, dass die dort lebenden Menschen zunehmend pflegebedürftig werden und in der normalen Tagesstrukturierung nicht mehr bedarfsgerecht versorgt werden können. Also wurden diese oftmals in das bestehende angegliederte Pflegeheim aufgenommen. In den letzten Jahren wurden jedoch „vermehrte komplexe Problemlagen“ bei den Betroffenen erkennbar, sodass das Pflegeheim inzwischen zum größten Teil Menschen mit Suchterkrankung stationär betreut, während der Anteil der gutbürgerlichen Senior*innen auf ca. 20 % zurückging.
Thorsten Neumann und Sebastian Niklasch, Bereichsleitungen der Einrichtung in Nordrhein-Westfalen, schilderten im Gespräch mit Brigitte Ströbele (Aidshilfe Reutlingen-Tübingen e.V.) und Laura Küssner (BWLV Drogenhilfe Tübingen gGmbH) eindrucksvoll ihre Erfahrungen im Betreiben einer solchen zwischenzeitlich umständehalber auf Menschen mit Suchterkrankung spezialisierten Pflegeeinrichtung: So beschrieben sie die Herausforderungen der speziellen Klientel, die „einen anderen Humor, andere Kleidung und ein anderes Verhalten an den Tag legt – manchmal ist die Musik dort halt einfach laut“. Dass hierfür eine Akzeptanz der anderen Mitbewohner und auch der Mitarbeitenden notwendig ist, um die damit einhergehenden Konflikte regeln zu können, ist einleuchtend. Dass mit einer entsprechenden akzeptierenden Einstellung aber auch die Würde der Betroffenen erhalten bleiben kann, wurde ebenso deutlich: Ein Pflegebedürftiger, der aufgrund seiner Suchterkrankung sein Verhalten weniger kontrollieren kann und z.B. die Angewohnheit hat, auf dem Balkon seines Zimmers zu urinieren, wird in standardisierten Einrichtungen vielleicht als Skandal wahrgenommen. In Haus Maria Veen wird diese Person „dann halt in ein hinteres Zimmer verlegt, wo das Verhalten nicht so viel Anstoß erregt“. Überhaupt wird dort zum einen mit einem konsum-akzeptierenden Ansatz gearbeitet – „das Ziel muss nicht immer Abstinenz sein“; zum anderen wird generell auf der Beziehungsebene und nicht mittels Sanktionen versucht Einfluss auf das mitunter schwer kontrollierbare Klientel Einfluss zu nehmen.
Nun wurde die Veranstaltung vom Paritätischen Kreisverband auch deshalb angeregt, da man selbst im Landkreis eine bedarfsgerechte Versorgung pflegebedürftiger Suchterkrankter vermisst und ein entsprechendes Angebot dringend umsetzen möchte. Nicht nur können ambulant betreute Suchtkranke vor Ort in den bestehenden Strukturen nicht adäquat versorgt werden; auch belegen etliche dieser Personen notwendige Plätze in der Psychiatrie dauerhaft, da sie aktuell nur dort die Versorgung finden können, die sie brauchen – auch wenn die Zielsetzung der Psychiatrie eine andere ist. Die Anwesenden aus den unterschiedlichsten lokalen Institutionen – es nahmen Personalien vom Landratsamt über die Stadtverwaltung, den Kreisseniorenrat und diversen freien Trägern der Suchthilfe an der anschließenden Diskussion teil – nutzten also die Chance und erfragten relevante Details bei den Referent*innen: Ist es nicht extrem schwierig, Mitarbeitende für eine solch herausfordernde Tätigkeit zu gewinnen? Nicht unbedingt: Gerade die Arbeit mit einer oft recht jungen Klientel (das Pflegeheim des Hauses Maria Veen hat einen Altersdurchschnitt von gerade 60 Jahren) und der andere Ansatz kann durchaus attraktiv für Pflegekräfte sein; zudem erhalten diese ja Schulungen und Intervisionen, um die besonderen Situationen souverän meistern zu können. Sollte man eine solche Einrichtung von Grund auf neu etablieren oder lieber bestehende Angebote erweitern? Die Aussage von Thorsten Neumann war ein deutliches: „Neu bauen!“ Dies entspricht auch der Erfahrung vor Ort, dass bestehende Träger von Pflegeeinrichtungen auf Anfrage durchweg negativ reagierten und keine Bereitschaft zeigten, ihr Angebot zu erweitern. Unbeantwortet blieb hingegen die Frage, ob ein ambulantes oder doch eher stationäres Angebot die beste Wahl für den Landkreis sei. Auch entstand ein neuer konzeptioneller Gedanke, den es sich weiterzuentwickeln lohnt: Vielleicht ist eine Pflegeeinrichtung, die nicht nur Suchtkranke behandelt, sondern auch weiteren sozialpsychiatrischen Besonderheiten begegnen kann, eine gute Idee, die leichter umgesetzt werden kann. Das Fazit des Abends formulierte Michael Lucke vom Kreisseniorenrat abschließend: „Es braucht auf jeden Fall einen klaren politischen Willen – ohne den können wir die dringend nötige Versorgung nicht leisten.“