Dr. phil. Dipl.-Psych. Christopher Kofahl ist promovierter Psychologe und stellvertretender Institutsdirektor für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Selbsthilfe und Patientenbeteiligung. Der Artikel gibt einen Überblick über den Stand der Forschung.
„Selbsthilfe? – Ist das nicht aus der Zeit gefallen?“ Solche oder ähnliche Äußerungen hören in der Selbsthilfe Engagierte nicht selten. Um auf die Frage eine kurze Antwort zu geben: Nein, ist sie nicht. Vermutlich haben die Skeptiker noch die „klassischen“ Formen der Selbsthilfe vor Augen, allen voran den Stuhlkreis. Dieser existiert natürlich nach wie vor; er ist aber schon seit längerem nur noch eines von vielen Elementen praktizierter Selbsthilfe. Zahlreiche weitere Aktivitäten sind inzwischen hinzugekommen bzw. haben sich etabliert. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe ist eine maßgebliche Größe in Gesellschaft, Sozial- und Gesundheitswesen geworden. In vielen Bereichen wirkt sie nicht nur mit, sondern ist sogar entscheidender Impulsgeber für sozial- und gesundheitspolitische Veränderungen, Gesundheitsforschung oder Anpassungen in der gesundheitlichen Versorgung.
Gesundheitskompetenz
Angesichts der medialen und digitalen Entwicklungen sowie des zunehmend frei verfügbaren Wissens geht es heute nicht mehr in erster Linie darum, in und durch Selbsthilfegruppen überhaupt an Informationen zu kommen, sondern deren unglaubliche Fülle zu ordnen, zu verstehen und hierbei die Spreu vom Weizen zu trennen, um Entscheidungen zu treffen, die für das eigene Leben und die Gesundheit förderlich sind. Diese Fähigkeit entspricht hier – in etwas anderen Worten – der gängigen Definition von Gesundheitskompetenz. Ein Begriff, der das Heilversprechen suggeriert, dass gesundheitsgebildete Menschen sich gesundheitsförderlich – das heißt hier selbstwirksam und selbstregulatorisch – verhalten, um idealerweise gar nicht erst krank zu werden; und falls doch, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen bestmöglich zu bewältigen. Auch wenn die gesundheitsbezogene Selbsthilfe dieses Konstrukt ursprünglich gar nicht für sich in Anspruch genommen hat (die zentrale Zielgröße war hier eher „Empowerment“), so hat sie faktisch doch immer die verschiedenen Facetten der Gesundheitskompetenz bedient und zur Kompetenzsteigerung von Betroffenen beigetragen; soweit dies wissenschaftlich messbar ist, sogar mit signifikanten Effekten.
Patientenbeteiligung
Die organisierte Selbsthilfe wirkt hierzu in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, insbesondere in Form von Patientenbeteiligung. Nicht immer, aber doch weit überwiegend sind es Vertreter*innen von Selbsthilfegruppen und -organisationen, welche die ursprünglich selbst eingeforderte Patientenbeteiligung ausfüllen. Patientenbeteiligung findet sich heute in:
- Politik (z. B. im Gemeinsamen Bundesausschuss, in kommunalen und Landesgremien, Gesundheitskonferenzen, Landespflegeausschüssen)
- Versorgung (z. B. in Patientenbeiräten oder als Peer-Berater, Gesundheitsbotschafter*innen, Onko-Lots*innen, Genesungsbegleiter*innen)
- Forschung und Wissenschaft (z. B. als Berater*innen, Themen- und Fragebogen-Entwickler*innen, (Co-)Autor*innen, Erstellung von Patientenleitlinien)
- Lehre (z. B. im Team-Teaching mit Ärzt*innen im Medizin-Studium, in Kommunikationstrainings, Vorlesungen, Seminaren)
- Bevölkerungsbildung und Aufklärung (z. B. durch Aufbereitung und Verbreitung „laienverständlicher“ Gesundheitsinformationen, Engagement in Prävention, Awareness-Programme)
Schulungsangebote und Bildungsmaßnahmen
Um die besonders engagierten Selbsthilfeaktiven in ihren Rollen als Moderator*innen, Berater*innen, Multiplikator*innen und/oder Co-Produzierende zu befähigen, wachsen die Angebote an (Fort-)Bildungsmaßnahmen für Patient*innen- und Selbsthilfevertretende. Nicht nur die Selbsthilfeorganisationen halten umfassende Schulungsangebote für ihre Mitglieder vor. Auch übergeordnete Angebote dienen der weiteren Befähigung von Betroffenen wie z. B. die Patienten-Experten Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK) des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen, Patientenakademien an verschiedenen Krankenhäusern und medizinischen Schwerpunktzentren, die Stabsstelle Patientenbeteiligung des G-BA oder das Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe am Universitätsklinikum Freiburg, um nur einige zu nennen.
Anerkennung und Kooperation
Die bis hier beschriebenen Aktivitäten zeigen nicht nur ein hohes und anspruchsvolles Niveau der selbsthilfebezogenen Aufgaben, sondern vor allem einen hohen Grad der Integration in die Strukturen des Sozial- und Gesundheitssystems. Dies zu ermöglichen bedarf einer ganz wesentlichen Voraussetzung: Die Anerkennung der Selbsthilfe durch die professionellen Akteure und deren Bereitschaft, mit der Selbsthilfe zu kooperieren. Dies gelingt in vielen Bereichen bereits sehr gut, und dennoch ist das Steigerungspotenzial noch erheblich. Das Konzept der Selbsthilfefreundlichkeit ist inzwischen gut erprobt und das Netzwerk Patientenorientierung und Selbsthilfefreundlichkeit im Gesundheitswesen (SPiG) erfreut sich steigender Nachfrage durch Versorgungseinrichtungen. Doch darf nicht übersehen werden, dass zu einer Kooperation immer mindestens zwei gehören, das heißt nicht nur Kliniken und Arztpraxen müssen die Ansprüche bedienen, sondern auch die Selbsthilfegruppen und -organisationen selbst, was nicht immer einfach ist. Ein großer Teil der Selbsthilfekontaktstellen ist inzwischen gut aufgestellt, das Kooperationsgeschehen zwischen Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen zu unterstützen, auch um beide Seiten zu entlasten, damit sie den Fokus auf die eigentlichen Ziele der Kooperation richten können: Patient*innen und deren An- und Zugehörige über Selbsthilfe zu informieren und ihnen die Chance auf Teilhabemöglichkeiten in der Selbsthilfe zu geben.
Ziele für die Zukunft
Die Aufgaben der Zukunft für die Selbsthilfeaktiven sind sehr anspruchsvoll und auch fordernd. Nur ein kleinerer Teil von ihnen fühlt sich dazu berufen und motiviert, diese Aufgaben zu übernehmen. Dieser aber schafft der großen Mehrheit der Selbsthilfegruppenmitglieder den notwendigen Rahmen, sich zu begegnen und in einen fruchtbaren Austausch zu kommen. Angesichts der vielen Motive und hehren Ziele der Selbsthilfe sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren: Die wichtigsten Zielgrößen und auch Wirkungen bleiben damals wie heute emotionale Bedürfnisse wie Gemeinsamkeit, Fürsorge, Geborgenheit, Entlastung und soziale Teilhabe.
Erkenntnisse aus der Selbsthilfeforschung
Die wissenschaftliche Evidenz zeigt positive Wirkungen der Selbsthilfe in der Gesundheitskompetenz, insbesondere im krankheitsbezogenen Wissen und im Selbstmanagement. Die „Effekte“ sind im Vergleich mit Betroffenen ohne Selbsthilfeaktivität nicht riesig, aber messbar vorhanden.
Die soziale Teilhabe und die gegenseitige Entlastung stehen im Vordergrund und werden studienübergreifend als größter Benefit erlebt. Auch die Peer-Beratung erfährt hohe Akzeptanz und steigert das Empowerment der Betroffenen.
Dr. phil. Dipl.-Psych. Christopher Kofahl
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Institut für Medizinische Soziologie