Selbsthilfe hilft

Junge Frau in gelbem Shirt blickt fröhlich

Selbsthilfegruppen als Motor und Spiegel

Vielleicht kennen Sie das Vorurteil: Selbsthilfegruppen seien nur in ihrer eigenen Blase unterwegs und verstärkten bei Menschen eine „Jammerhaltung“. Wer einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Selbsthilfebewegung wirft und die aktuelle Selbsthilfelandschaft genauer anschaut, merkt, dass das Gegenteil der Fall ist: Selbsthilfegruppen sind Motor und Spiegel wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen.

Denn es entsteht keine Selbsthilfegruppe ohne Bedarf. Ein Beispiel: Psychische Belastungen nehmen zu. Psychische Krankheiten werden enttabuisiert. Das bestehende Hilfesystem ist überlastet. Es gründen sich in der Folge vermehrt Gruppen zum Thema zu psychischen Themen gründen, wie Depression. 

Selbsthilfekontaktstellen

Gruppengründungen begleiten und Gruppen beraten, Infrastruktur zur Verfügung stellen, Interessierte vermitteln, das alles leisten ca. 330 Selbsthilfekontaktstellen in ganz Deutschland. 

Zukunftsvision Selbsthilfe

You are not alone

Dr. phil. Dipl.-Psych. Christopher Kofahl ist promovierter Psychologe und stellvertretender Institutsdirektor für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Selbsthilfe und Patientenbeteiligung. Der Artikel gibt einen Überblick über den Stand der Forschung.

„Selbsthilfe? – Ist das nicht aus der Zeit gefallen?“ Solche oder ähnliche Äußerungen hören in der Selbsthilfe Engagierte nicht selten. Um auf die Frage eine kurze Antwort zu geben: Nein, ist sie nicht. Vermutlich haben die Skeptiker noch die „klassischen“ Formen der Selbsthilfe vor Augen, allen voran den Stuhlkreis. Dieser existiert natürlich nach wie vor; er ist aber schon seit längerem nur noch eines von vielen Elementen praktizierter Selbsthilfe. Zahlreiche weitere Aktivitäten sind inzwischen hinzugekommen bzw. haben sich etabliert. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe ist eine maßgebliche Größe in Gesellschaft, Sozial- und Gesundheitswesen geworden. In vielen Bereichen wirkt sie nicht nur mit, sondern ist sogar entscheidender Impulsgeber für sozial- und gesundheitspolitische Veränderungen, Gesundheitsforschung oder Anpassungen in der gesundheitlichen Versorgung.

Gesundheitskompetenz

Angesichts der medialen und digitalen Entwicklungen sowie des zunehmend frei verfügbaren Wissens geht es heute nicht mehr in erster Linie darum, in und durch Selbsthilfegruppen überhaupt an Informationen zu kommen, sondern deren unglaubliche Fülle zu ordnen, zu verstehen und hierbei die Spreu vom Weizen zu trennen, um Entscheidungen zu treffen, die für das eigene Leben und die Gesundheit förderlich sind. Diese Fähigkeit entspricht hier – in etwas anderen Worten – der gängigen Definition von Gesundheitskompetenz. Ein Begriff, der das Heilversprechen suggeriert, dass gesundheitsgebildete Menschen sich gesundheitsförderlich – das heißt hier selbstwirksam und selbstregulatorisch – verhalten, um idealerweise gar nicht erst krank zu werden; und falls doch, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen bestmöglich zu bewältigen. Auch wenn die gesundheitsbezogene Selbsthilfe dieses Konstrukt ursprünglich gar nicht für sich in Anspruch genommen hat (die zentrale Zielgröße war hier eher „Empowerment“), so hat sie faktisch doch immer die verschiedenen Facetten der Gesundheitskompetenz bedient und zur Kompetenzsteigerung von Betroffenen beigetragen; soweit dies wissenschaftlich messbar ist, sogar mit signifikanten Effekten.

Patientenbeteiligung

Die organisierte Selbsthilfe wirkt hierzu in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, insbesondere in Form von Patientenbeteiligung. Nicht immer, aber doch weit überwiegend sind es Vertreter*innen von Selbsthilfegruppen und -organisationen, welche die ursprünglich selbst eingeforderte Patientenbeteiligung ausfüllen. Patientenbeteiligung findet sich heute in:

  • Politik (z. B. im Gemeinsamen Bundesausschuss, in kommunalen und Landesgremien, Gesundheitskonferenzen, Landespflegeausschüssen)
  • Versorgung (z. B. in Patientenbeiräten oder als Peer-Berater, Gesundheitsbotschafter*innen, Onko-Lots*innen, Genesungsbegleiter*innen)
  • Forschung und Wissenschaft (z. B. als Berater*innen, Themen- und Fragebogen-Entwickler*innen, (Co-)Autor*innen, Erstellung von Patientenleitlinien)
  • Lehre (z. B. im Team-Teaching mit Ärzt*innen im Medizin-Studium, in Kommunikationstrainings, Vorlesungen, Seminaren)
  • Bevölkerungsbildung und Aufklärung (z. B. durch Aufbereitung und Verbreitung „laienverständlicher“ Gesundheitsinformationen, Engagement in Prävention, Awareness-Programme)

Schulungsangebote und Bildungsmaßnahmen

Um die besonders engagierten Selbsthilfeaktiven in ihren Rollen als Moderator*innen, Berater*innen, Multiplikator*innen und/oder Co-Produzierende zu befähigen, wachsen die Angebote an (Fort-)Bildungsmaßnahmen für Patient*innen- und Selbsthilfevertretende. Nicht nur die Selbsthilfeorganisationen halten umfassende Schulungsangebote für ihre Mitglieder vor. Auch übergeordnete Angebote dienen der weiteren Befähigung von Betroffenen wie z. B. die Patienten-Experten Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK) des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen, Patientenakademien an verschiedenen Krankenhäusern und medizinischen Schwerpunktzentren, die Stabsstelle Patientenbeteiligung des G-BA oder das Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe am Universitätsklinikum Freiburg, um nur einige zu nennen.

Anerkennung und Kooperation

Die bis hier beschriebenen Aktivitäten zeigen nicht nur ein hohes und anspruchsvolles Niveau der selbsthilfebezogenen Aufgaben, sondern vor allem einen hohen Grad der Integration in die Strukturen des Sozial- und Gesundheitssystems. Dies zu ermöglichen bedarf einer ganz wesentlichen Voraussetzung: Die Anerkennung der Selbsthilfe durch die professionellen Akteure und deren Bereitschaft, mit der Selbsthilfe zu kooperieren. Dies gelingt in vielen Bereichen bereits sehr gut, und dennoch ist das Steigerungspotenzial noch erheblich. Das Konzept der Selbsthilfefreundlichkeit ist inzwischen gut erprobt und das Netzwerk Patientenorientierung und Selbsthilfefreundlichkeit im Gesundheitswesen (SPiG) erfreut sich steigender Nachfrage durch Versorgungseinrichtungen. Doch darf nicht übersehen werden, dass zu einer Kooperation immer mindestens zwei gehören, das heißt nicht nur Kliniken und Arztpraxen müssen die Ansprüche bedienen, sondern auch die Selbsthilfegruppen und -organisationen selbst, was nicht immer einfach ist. Ein großer Teil der Selbsthilfekontaktstellen ist inzwischen gut aufgestellt, das Kooperationsgeschehen zwischen Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen zu unterstützen, auch um beide Seiten zu entlasten, damit sie den Fokus auf die eigentlichen Ziele der Kooperation richten können: Patient*innen und deren An- und Zugehörige über Selbsthilfe zu informieren und ihnen die Chance auf Teilhabemöglichkeiten in der Selbsthilfe zu geben.

Ziele für die Zukunft

Die Aufgaben der Zukunft für die Selbsthilfeaktiven sind sehr anspruchsvoll und auch fordernd. Nur ein kleinerer Teil von ihnen fühlt sich dazu berufen und motiviert, diese Aufgaben zu übernehmen. Dieser aber schafft der großen Mehrheit der Selbsthilfegruppenmitglieder den notwendigen Rahmen, sich zu begegnen und in einen fruchtbaren Austausch zu kommen. Angesichts der vielen Motive und hehren Ziele der Selbsthilfe sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren: Die wichtigsten Zielgrößen und auch Wirkungen bleiben damals wie heute emotionale Bedürfnisse wie Gemeinsamkeit, Fürsorge, Geborgenheit, Entlastung und soziale Teilhabe.

Erkenntnisse aus der Selbsthilfeforschung

Die wissenschaftliche Evidenz zeigt positive Wirkungen der Selbsthilfe in der Gesundheitskompetenz, insbesondere im krankheitsbezogenen Wissen und im Selbstmanagement. Die „Effekte“ sind im Vergleich mit Betroffenen ohne Selbsthilfeaktivität nicht riesig, aber messbar vorhanden.

Die soziale Teilhabe und die gegenseitige Entlastung stehen im Vordergrund und werden studienübergreifend als größter Benefit erlebt. Auch die Peer-Beratung erfährt hohe Akzeptanz und steigert das Empowerment der Betroffenen.

Dr. phil. Dipl.-Psych. Christopher Kofahl

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Institut für Medizinische Soziologie

Beispiele für wirksame Selbsthilfe

Mein Herz lacht

Illu mit bunten Menschen die fröhlich zusammenstehen

Wenn das Herz stolpert – und dann stärker schlägt: Was mit einer schockierenden Diagnose begann, wurde zur Kraftquelle für viele: Gail McCutcheon gründete Mein Herz lacht e.V., um betroffene Eltern aus der Isolation zu holen – und ihnen eine Gemeinschaft voller Verständnis, Unterstützung und Hoffnung zu schenken. 

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Illu mit bunten Menschen die fröhlich zusammenstehen

Wenn das Herz stolpert – und dann stärker schlägt: Was mit einer schockierenden Diagnose begann, wurde zur Kraftquelle für viele: Gail McCutcheon gründete Mein Herz lacht e.V., um betroffene Eltern aus der Isolation zu holen – und ihnen eine Gemeinschaft voller Verständnis, Unterstützung und Hoffnung zu schenken. 

Baden-Württembergischer Landesverband für Prävention und Rehabilitation

bwlv in Zahlen

Selbsthilfe ist keine stille Runde – sondern gelebte Stärke: Mehr als 2.000 Betroffene und Angehörige finden beim bwlv in 180 Selbsthilfegruppen nicht nur Austausch, sondern echte Perspektiven. Hier wird aus eigener Erfahrung Kompetenz. Die Peer-Beratung ist ein wichtiges Element der Selbsthilfe, denn Betroffene können so aufgrund ihrer eigenen Erfahrung Vorbild sein, emotionale Unterstützung geben und Beratungen bieten. 

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bwlv in Zahlen

Selbsthilfe ist keine stille Runde – sondern gelebte Stärke: Mehr als 2.000 Betroffene und Angehörige finden beim bwlv in 180 Selbsthilfegruppen nicht nur Austausch, sondern echte Perspektiven. Hier wird aus eigener Erfahrung Kompetenz. Die Peer-Beratung ist ein wichtiges Element der Selbsthilfe, denn Betroffene können so aufgrund ihrer eigenen Erfahrung Vorbild sein, emotionale Unterstützung geben und Beratungen bieten. 

ARGE gemeinsam gegen die Sucht

Die Arbeitsgemeinschaft Suchtselbsthilfe bietet Betroffenen mehr als nur Rat – sie gibt Hoffnung, Zugehörigkeit und neue Perspektiven. Bei der ArGe ebnen Ehrenamt, Gemeinschaft und gelebte Solidarität den Weg aus der Abhängigkeit.  

ARGE gemeinsam gegen die Sucht

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Die Arbeitsgemeinschaft Suchtselbsthilfe bietet Betroffenen mehr als nur Rat – sie gibt Hoffnung, Zugehörigkeit und neue Perspektiven. Bei der ArGe ebnen Ehrenamt, Gemeinschaft und gelebte Solidarität den Weg aus der Abhängigkeit.  

Elternselbsthilfe

Bei der Elternselbsthilfe helfen Eltern Eltern mit suchtgefährdeten oder suchtkranken Kindern: Natürlich gibt es kein Patentrezept als Lösung, jedoch viele Ansätze, die ein gutes Leben für Angehörige und auch für die Kinder ermöglichen. Durch den gemeinsamen Austausch können sich individuelle und passende Wege entwickeln. Vieles was hilfreich und nützlich sein könnte, wird hier als Wissen von Erfahrenen an Unerfahrene weitergegeben. Wissen rund um das Thema Sucht wird erweitert durch Besuche von Seminaren, Fachvorträgen und vielen sonstigen Austauschgruppen.

Elternselbsthilfe

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Bei der Elternselbsthilfe helfen Eltern Eltern mit suchtgefährdeten oder suchtkranken Kindern: Natürlich gibt es kein Patentrezept als Lösung, jedoch viele Ansätze, die ein gutes Leben für Angehörige und auch für die Kinder ermöglichen. Durch den gemeinsamen Austausch können sich individuelle und passende Wege entwickeln. Vieles was hilfreich und nützlich sein könnte, wird hier als Wissen von Erfahrenen an Unerfahrene weitergegeben. Wissen rund um das Thema Sucht wird erweitert durch Besuche von Seminaren, Fachvorträgen und vielen sonstigen Austauschgruppen.

Angehörige psychisch erkrankter Menschen unterstützen sich

Man schreibt an eine Tafel

Der Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (ApK) möchte im gemeinsamen Engagement auf bessere Lebensbedingungen, sowohl für die erkrankten Menschen, als auch für deren
Angehörige hinwirken. Die Bildung von Angehörigengruppen wird gefördert und ihre Tätigkeit als Selbsthilfegruppen sowie als Vertretung der Belange von Angehörigen gegenüber Städten und Kreisen unterstützt.

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Man schreibt an eine Tafel

Der Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (ApK) möchte im gemeinsamen Engagement auf bessere Lebensbedingungen, sowohl für die erkrankten Menschen, als auch für deren
Angehörige hinwirken. Die Bildung von Angehörigengruppen wird gefördert und ihre Tätigkeit als Selbsthilfegruppen sowie als Vertretung der Belange von Angehörigen gegenüber Städten und Kreisen unterstützt.

Selbsthilfe zählt zu den größten Bereichen bürgerschaftlichen Engagements: Hunderttausende Menschen engagieren sich in Selbsthilfegruppen, um sich gegenseitig bei chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder anderen herausfordernden Lebenssituationen zu unterstützen.

Die Selbsthilfe ist für ca. 3,5 Mio. Menschen in 100.000 Selbsthilfegruppen die unverzichtbare vierte Säule des Gesundheits- und Sozialwesens. Durch gemeinschaftlichen Austausch und gegenseitige Unterstützung von Menschen in ähnlichen Lebenssituationen stärkt sie die gesellschaftliche Teilhabe und gibt Halt in persönlichen Krisen.