Die seelischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit

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Person sitzt einsam und traurig auf einem Sofa
seelische Auswirkungen von Arbeitslosigkeit
Macht uns Künstliche Intelligenz bald arbeitslos? Und was machen wir dann? Was macht die Erwerbstätigkeit mit unserer Psyche?

Aktuelle Diskussionen zu Entwicklungen in KI und Digitalisierung legen Zukunftsszenarien nahe, in denen Erwerbsarbeit als Ganzes unnötig und Massenarbeitslosigkeit die Norm werden könnten. Manche sogenannten KI-Experten raten jungen Menschen inzwischen selbst vom Jura- oder Medizinstudium ab, da die entsprechenden Tätigkeiten angeblich bald durch automatisierte Expertensysteme besser erledigt werden können. 

Die Ersetzung menschlicher Arbeit durch maschinelle Prozesse scheint eine völlig neue Dynamik erreicht zu haben. Eine Gesellschaft wird realistisch vorstellbar, in der Arbeitsplätze das Privileg einer kleinen Minderheit sind, während die Mehrheit der Menschen lernen muss, in einem Zustand zu leben, der permanenter Arbeitslosigkeit gleichkommt. Es stellt sich die Frage, wie es in einer solchen Gesellschaft um die psychische Gesundheit der Bevölkerung bestellt wäre. 

Eine – zumindest partielle – Antwort kann die psychologische Forschung zu den seelischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit liefern. In der berühmten Marienthal-Studie analysierte ein Forscherteam aus Wien bereits 1933 die Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit aufgrund der Weltwirtschaftskrise in der österreichischen Arbeitergemeinde Marienthal. Durch die Schließung der einzigen Fabrik wurden schlagartig nahezu alle Arbeitsplätze des Dorfes vernichtet. 

Es zeigte sich, dass Arbeitslosigkeit nicht nur schwere materielle Not verursachte, sondern auch zu Resignation und Apathie, sozialer Isolation, einem Zusammenbruch der Zeitstruktur und dem Verlust von Lebenssinn führte. 

Zahlreiche spätere Untersuchungen bestätigen, dass Arbeitslosigkeit typischerweise mit einer eingeschränkten psychischen Gesundheit einhergeht. Merkmale sind beispielsweise Depressionssymptome, Existenzängste, ein reduziertes Selbstwertgefühl, Scham und eine verringerte Lebenszufriedenheit. Der Anteil von Personen mit behandlungsbedürftigen psychischen Störungen beträgt unter Erwerbstätigen ca. 16 Prozent und erhöht sich bei Arbeitslosen auf ca. 34 Prozent. Dieser negative psychologische Effekt von Arbeitslosigkeit ist dabei bei Angehörigen von gewerblich-technischen Berufen sowie Männern im Vergleich zu Angehörigen von Büroberufen bzw. Frauen stärker ausgeprägt, wobei bisher jedoch keine größere gesellschaftliche Gruppe identifiziert wurde, die gar nicht unter Arbeitslosigkeit leidet. Mit fortbestehender Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen wiederholten Rückschlägen und Enttäuschungen kommt es zudem meist zu einer zunehmenden Verschlechterung des Wohlbefindens. Nach etwa einem Dreivierteljahr setzt dann eine Stabilisierung der seelischen Gesundheit auf niedrigem Niveau ein. Die Gesundheit verschlechtert sich zwar nicht mehr weiter, bleibt aber eingeschränkt. 

Mithilfe von Längsschnittstudien konnte zudem gezeigt werden, dass der Unterschied zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten auch ursächlich auf die Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist. Sogenannte Selektionseffekte – wenn beispielsweise depressive Menschen leichter ihre Stelle verlieren als Gesunde – spielen hingegen nur eine untergeordnete Rolle. 

Wie lassen sich die beeinträchtigenden Effekte der Arbeitslosigkeit erklären?

grafik psychische Faktoren

Die empirisch am besten gestützte Theorie zu dieser Frage ist das Modell der manifesten und latenten Funktionen der Erwerbsarbeit. Demnach hat Erwerbsarbeit für das Individuum nicht nur die offensichtliche Funktion des Gelderwerbs, sondern auch verschiedene sogenannte latente Funktionen. Dabei handelt es sich um Nebeneffekte der Arbeit, die uns meist nur wenig bewusst sind, aber dennoch entscheidend zur seelischen Gesundheit beitragen. Dazu zählen: (1) Zeitstruktur, (2) Sozialkontakt, (3) Status, (4) Sinngebung, (5) Aktivität und (6) Kompetenzerleben. In der Arbeitslosigkeit fallen die positiven Erfahrungen in diesen Dimensionen plötzlich weg, und der resultierende Mangel wirkt sich negativ auf die psychische Gesundheit aus. 

Die latenten Funktionen der Arbeit werden in modernen Gesellschaften vor allem durch Erwerbsarbeit verfügbar gemacht und können im Rahmen anderer sozialer Rollen nicht ausreichend erfüllt werden. Eine neue Normalbiographie ohne Erwerbsarbeit würde gemäß diesem Modell demnach ein düsteres Szenario darstellen, da eine allgemeine Verschlechterung der seelischen Gesundheit der Bevölkerung zu befürchten wäre. Um dem entgegen zu wirken, müssten die Gesellschaften neue, alternative Quellen der latenten Funktionen der Arbeit entwickeln, die die klassische Erwerbsarbeit ersetzen können. Diese Herausforderung dürfte erheblich sein. 

Eine etwas optimistischere Perspektive eröffnet eine andere Theorie, das sogenannte Inkongruenzmodell. Demnach ist eine wesentliche Ursache der negativen Effekte von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit in der hohen, historisch erst in den letzten Jahrhunderten gewachsenen Wertschätzung zu sehen, die unsere Gesellschaft der Erwerbsarbeit entgegenbringt. Das arbeitslose Individuum leidet demnach, weil das eigene Leben nicht mit dem internalisierten positiven Bild von Erwerbsarbeit und erwerbstätigen Menschen in Einklang steht. Ausgehend von dieser Theorie könnte bereits eine vergleichbar hohe Wertschätzung alternativer Tätigkeiten dazu beitragen, die befürchtete Verschlechterung der seelischen Gesundheit zumindest abzumildern. 

 

Univ.-Prof. Dr. Karsten Paul
Professor für Angewandte Psychologie 

Monika Mlýnek
MA Wissenschaftliche Mitarbeiterin 

Johannes Kepler Universität Linz 
Abteilung Arbeits-, Organisations- und Medienpsychologie 

https://www.jku.at 

Beitrag aus ParitätInform 3/2025