Sozialminister Lucha setzt für individuelle Lösungen ein

Fachinformation - geschrieben am 04.01.2023 - 14:10
Zwei Personen, eine im Rollstuhl, besprechen sich vor einem Whiteboard

„Ich nehme die Sorgen und Nöte sehr ernst."

Das Bundesteilhabegesetz stellt einen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe dar. Künftig haben Menschen mit Behinderung den Anspruch und das Recht, die individuelle Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen, um selbstbestimmt leben zu können. Die Ausgestaltung stellt alle Akteur*innen der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg vor große Herausforderungen. Darüber sprachen wir mit Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration des Landes Baden-Württemberg.

Wie wollen Sie die Eingliederungshilfe gestalten, damit Menschen mit Behinderung überall in Baden-Württemberg gleichberechtigt teilhaben können?

In der Tat: Menschen mit Behinderung müssen selbstbestimmt leben und voll und gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Das soll das Bundesteilhabegesetz ermöglichen. Künftig orientieren sich die Leistungen konsequent am individuellen Bedarf der Menschen – an dem, was diese brauchen und so, wie sie es sich jeweils wünschen. Es geht um echte Nachteilsausgleiche. Das Bundesteilhabegesetz hat zudem den Begriff der Behinderung neu definiert. Es nimmt nicht nur die Beeinträchtigungen der Menschen mit Behinderungen in den Blick, sondern schaut auf deren Wechselwirkung mit Barrieren, die an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.

Deshalb nehmen wir alle Barrieren in den Blick – nicht nur die, die sich mit Sozialleistungen überwinden lassen. In Baden-Württemberg setzen wir das Bundesteilhabegesetz gemeinsam mit den Betroffenen um. Die Arbeitsgruppen und Gremien sind paritätisch besetzt. Das ist zwar zeitintensiv und aufwändig. Aber es lohnt sich. Denn Qualität und Akzeptanz steigen, wenn alle an einem Tisch sitzen. Mittelfristig verfolgen wir dabei das Ziel, dass die Hilfen aus einer Hand erbracht werden. Deshalb beziehen wir auch andere Leistungsträger in den Dialog ein. Die Fäden laufen in der „Landesarbeitsgemeinschaft Teilhabe“ nach § 94 Abs. 4 SGB IX zusammen, die wir im Oktober 2021 eingerichtet haben.

In Baden-Württemberg hat das Land die 44 Stadt- und Landkreise als Träger der Eingliederungshilfe bestimmt. Das BTHG sieht vor, dass die Länder sie bei ihren Aufgaben unterstützen. Diese Unterstützung bezieht sich sowohl auf die zielgerichtete Erbringung und Überprüfung der Leistungen wie auch auf die Qualitätssicherung einschließlich der Wirksamkeit. Dazu richten wir ein Monitoring ein. Eine Fachexpertise wurde dazu bereits erarbeitet. Gleichberechtigte Teilhabe muss zwar landesweit sichergestellt werden. Man muss dabei aber die regionalen Unterschiede berücksichtigen. Dies gilt sowohl für Raumstrukturen als auch für die Angebote der Behindertenhilfe. Denken Sie nur an die Unterschiede zwischen dem Land- und dem Stadtleben. Vor allem ist gleichberechtigte Teilhabe höchst individuell. Daher ist es wichtig, für jede und jeden individuell zu ermitteln, wann und mit welcher Unterstützung gleichberechtigte Teilhabe möglich wird. 

Wo sehen Sie die Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg 2030 im Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-BRK?

Wichtig für eine gleichberechtigte Teilhabe sind die neuen Leistungen der Assistenz, die künftig deutlich individueller erbracht werden. Teilweise sind dafür komplett neue Angebote zu schaffen. Derzeit wird vor Ort über die Verträge verhandelt. Da stehen die Träger der Eingliederungshilfe und die Leistungserbringer gleichermaßen in der Pflicht. Ich wünsche mir hier von den Verantwortlichen mehr Mut und ein zupackendes Vorgehen. Die Verbesserungen, die das Bundesteilhabegesetz zum Ziel hat, müssen mit Leben gefüllt werden und vor Ort bei den Menschen mit Behinderungen ankommen. Sie dürfen nicht als bürokratischer Papiertiger enden, das wäre verheerend!

Gleichberechtigte Teilhabe ist freilich nicht nur von Sozialleistungen abhängig. Vielmehr muss sich auch unsere Gesellschaft dahingehend verändern, dass gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen selbstverständlich wird. Es muss alltäglich sein, dass Menschen mit Behinderungen überall teilhaben können. Dafür müssen sie die Rahmenbedingungen vorfinden. Politik und Gesetze schaffen einen Rahmen. Ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft spätestens 2030 an diesem Punkt angekommen ist.

Porträtfoto des Sozialministers Manne Lucha

In Baden-Württemberg setzen wir das Bundesteilhabegesetz gemeinsam mit den Betroffenen um. Die Arbeitsgruppen und Gremien sind paritätisch besetzt. Das ist zwar zeitintensiv und aufwändig. Aber es lohnt sich. Denn Qualität und Akzeptanz steigen, wenn alle an einem Tisch sitzen.

Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg

Welche Visionen, Ideen oder Ansätze aus anderen Ländern inspirieren Sie persönlich?

Natürlich ist es wichtig, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es uns hier in Baden-Württemberg an Engagement und Kreativität mangelt. Die Unterstützungs- und Gesellschaftssysteme der Länder sind auch recht unterschiedlich. Im Moment sehe ich uns aber vielmehr im Hier und Jetzt gefordert, unser BTHG konkret mit Leben zu füllen – ich bin allen dankbar, die daran mitarbeiten und die diesem Prozess keine Steine oder Felsbrocken in den Weg legen.

Wie gelingt die personenzentrierte Umsetzung in Baden-Württemberg angesichts des akuten und weiterhin zu erwartenden Personalmangels in der Eingliederungshilfe? Sehen Sie Ansätze, wie das Sozialministerium hierbei hilfreich sein kann?

Der Personalmangel macht sich überall bemerkbar, auch in der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie. Dabei sind die Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit nicht immer ausreichend attraktiv. Image-Kampagnen sind wichtig, aber natürlich nicht ausreichend. Wir müssen übergeordnete Fragestellungen in den Blick nehmen. Es wird vor allem in der Eingliederungshilfe darauf ankommen, neue Assistenz- und Betreuungskonzepte zu entwickeln und dabei die knapper werdenden Ressourcen zielgerichtet und effektiv einzusetzen. Insgesamt gibt es aber keine einfachen Antworten. Denn der demographische Wandel ist eine der Hauptursachen für den Personalmangel. Und das kann leider nicht so schnell und einfach geändert werden.

Sehen Sie die Leistungen für Menschen mit Behinderung in ihrer Breite (insbesondere die niedrigschwelligen Angebote) durch die aktuellen Krisen gefährdet? Wie kann es gelingen, die Angebote zu sichern?

Es ist mir wichtig, wo immer es möglich ist, direkt Kontakt mit Menschen mit Behinderungen zu haben. Ich bin dazu auch im engen Austausch mit Simone Fischer, unserer engagierten, hochkompetenten Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Die Sorgen und Nöte, die mir berichtet werden, sind nachvollziehbar – ich nehme sie sehr ernst. Für die Sicherstellung der Leistungen sind zunächst die Träger der Eingliederungshilfe zuständig. Eine grundlegende Gefährdung der Leistungen sehe ich derzeit nicht. Die aktuelle Krisenlage entwickelt sich jedoch dynamisch. Der Bund arbeitet an Hilfsprogrammen, als Land müssen wir dann prüfen, wo der Schuh drückt. Ich werde mich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die bestehenden Angebote gesichert werden und das Bundesteilhabegesetz weiter konsequent umgesetzt wird.

 

Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg

 

Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022

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