Armut in Baden-Württemberg bei 11,9 Prozent – deutliche regionale Unterschiede Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg fordert vom Land eine gerechte Bildungs- und Familienpolitik

Pressemitteilung - geschrieben am 12.12.2019 - 14:08

Stuttgart/Freiburg i.Br. 12.12.2019     Im heute veröffentlichten Armutsbericht 2019 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes weist Baden-Württemberg eine Armutsquote von 11,9 Prozent auf. Damit ist Baden-Württemberg im bundesweiten Vergleich auf Rang zwei, direkt hinter Bayern. Insgesamt variieren die Armutsquoten in Baden-Württemberg auf niedrigem Niveau. Trotzdem sind die regionalen Unterschiede signifikant. Der nach wie vor höchsten Armutsquote in der Region Rhein-Neckar mit 14,8 Prozent steht die niedrigste in der Region Bodensee-Oberschwaben mit 10,6 Prozent gegenüber. Deshalb fordert der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg von der Landesregierung, auch regionale Entwicklungen in die Fortschreibung des Armuts- und Reichtumsberichts des Landes aufzunehmen und eine entsprechende Infrastrukturpolitik zur Armutsbekämpfung voranzutreiben.

 

„Die Armut in Baden-Württemberg ist zwar von 2017 bis 2018 um 0,2 Prozent leicht zurückgegangen. Dennoch ist die Armutsquote in unserem Bundesland im Zehnjahresvergleich, also seit 2008, um 16,7 Prozent gestiegen - bei gleichzeitig deutlich besserer wirtschaftlicher Entwicklung und während die Zahl der Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger zurückging. Mehr Arbeit bedeutet also nicht automatisch weniger Armut“, erklärt Carlos Marí, Sprecher Regionalverbund Südbaden des PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg und Geschäftsführer des Jugendhilfswerks Freiburg. „Nach den geltenden Berechnungsregeln wird jede Person als einkommensarm gezählt, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Für einen Single beispielsweise liegt die Armutsschwelle bei 1.035 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.174 Euro. Aus unserer Sicht handelt es sich hierbei um keine Armutsgefährdung, sondern um tatsächlich erlebte Armut, weil bei diesen Einkünften eine selbstverständliche Teilhabe an der Gesellschaft nicht möglich ist“, betont Carlos Marí.

 

„Deshalb gibt es auch in einer relativ wohlhabenden Stadt wie Freiburg Armut“, sagt Annika Beutel, Leiterin des Regionalverbundes Südbaden des PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. „Mit einer Armutsgefährdungsquote von 16,8 Prozent ist jede sechste Person gefährdet (Quelle Sozialbericht 2017). „Die Stadt ergreift mit der Übernahme von Kitabeiträgen für einkommensschwache Familien, die Kostensenkungsmöglichkeit für Mittagessen auf 1 Euro in Kindertageseinrichtungen oder den Stadtteilquartieren bereits wirksame Maßnahmen gegen Armut. Aber um sozialer Ausgrenzung vorzubeugen ist es wichtig, dass die Stadt preiswerten Wohnraum zur Verfügung stellt. Wenn Umzüge ins Umland verhindert werden können, stärkt das gewachsene nachbarschaftliche Unterstützungsnetzwerke, wodurch eingekaufte Unterstützungsleistungen reduziert werden können. Zudem muss die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raumes vorangetrieben werden. Denn auch die daraus resultierende Möglichkeit einer selbstständigeren Lebensführung für Menschen mit Handicap und im Alter spart Gelder, die an anderer Stelle fehlen“, so Beutel.

 

„Bei uns finden jährlich 450-500 junge Menschen, die hier in Freiburg auf der Straße und in prekärsten Wohnsituationen leben, eine Anlaufstelle, in der sie sich eine warme Mahlzeit zubereiten, duschen und waschen können, aber vor allem auch unterstützt werden, von der Straße wegzukommen“, erklärt Ann Lorenz, Bereichsleiterin bei der Freiburger StraßenSchule. „Was junge Menschen in Obdachlosigkeit und Armut brauchen – das sind Mitmenschen, die sich für sie interessieren! Sie wünschen sich ein Lächeln am Straßenrand und Orte, an denen sie willkommen sind und eine altersgemäße Hilfe finden“, so Lorenz. Auch in Südbaden sei es dringend erforderlich, maßgeschneiderte Angebote für obdach- und wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene weiter auszubauen, um ihnen reelle Chancen auf ein Leben jenseits von Straße und Armut zu geben.

 

„Wir müssen verhindern, dass sich Armut von Generation zu Generation überträgt und diese Familien automatisch schlechtere Lebensbedingungen und ihre Kinder weniger Bildungschancen haben“, ergänzt Marí. „Nicht nur unsere Armutsberichte, auch die aktuelle PISA- und Bertelsmann-Studie sowie weitere zeigen den Zusammenhang von Armut und Bildungschancen auf. Wir fordern daher das Sozial- und das Kultusministerium dazu auf, hier den Schulterschluss zu suchen. Unser Bildungssystem darf kein Kind zurücklassen. Die Debatte um verpflichtende Ganztagsschulen beispielsweise oder um andere bildungspolitische Maßnahmen, die notwendig sind, um Kindern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, muss ohne parteipolitische Scheuklappen geführt werden“, so Marí. „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Dieses Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann zeigt vor dem Hintergrund der Armutsberichtserstattung, dass noch viel Arbeit vor uns liegt“, so Carlos Marí abschließend.

Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg fordert vom Land eine gerechte Familienpolitik, die gleiche Rechte und gleiche Chancen für alle Familien schafft. Außerdem müsse die Umsetzung der Maßnahmen gegen Armut als Querschnittsaufgabe in der kommunalen Sozialplanung in den Bereichen Bauplanung, Quartiersentwicklung, Verkehrsplanung, Gesundheitsplanung und Altenhilfeplanung verankert werden.

Hintergrundinformation:

Paritätischer Armutsbericht 2019

Der Verband untersucht in der vorliegenden Studie die Armutsentwicklung auf Länder- und Regionalebene. In 35 von 95 Regionen ist die Armut laut Bericht zwischen 2008 und 2018 gesunken, darunter überwiegend ostdeutsche Regionen. In gut einem Viertel aller Regionen ist die Armut im gleichen Zeitraum um mehr als 20 Prozent gestiegen. Insbesondere das Ruhrgebiet bleibe mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent bei 5,8 Millionen Einwohner*innen Problemregion Nummer 1. Der Paritätische identifiziert darüber hinaus eine Reihe neuer Problemregionen („Die Abgestiegenen“), die, von guter Ausgangslage in 2008 gestartet, inzwischen ebenfalls Armutsquoten aufweisen, die über dem Bundesdurchschnitt liegen.

Besonders schlecht stellt sich die Entwicklung in Hessen dar: Gehörte das Bundesland vor zehn Jahren noch zum wohlhabenden Süden, ist die Armut in Hessen seitdem um 24 Prozent gestiegen und damit so stark wie in keinem anderen Bundesland. Der Paritätische weist schließlich auf die besondere Dynamik bei der Entwicklung von Altersarmut und der Armut Erwerbstätiger hin: Die Armut von Rentner*innen ist in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent und damit so stark wie bei keiner anderen Gruppe angestiegen. Von den erwachsenen Armen seien 29 Prozent in Rente und 32 Prozent erwerbstätig. Jedes fünfte Kind lebt in Armut.

Den Armutsbericht 2019, weitere Infos und eine detaillierte Suchfunktion nach Postleitzahlen finden Sie unter: www.der-paritaetische.de/armutsbericht

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