Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Fachinformation - geschrieben am 22.05.2023 - 17:40

Schilderungen Betroffener von organisierter sexualisierter Gewalt werden oft als Fantasie eingeordnet

Seit etwa 30 Jahren wenden sich Betroffene aus organi­sierten sexualisierten Gewaltstrukturen an Wildwasser Stuttgart. Beinahe ebenso lange besteht ein Narrativ, das von Unglauben geprägt ist. Aufgrund der meist un­ vorstellbaren Gewalt werden die Schilderungen von Betroffenen oft als Fantasie eingeordnet.

Gewaltstrukturen sind wenig sichtbar

Bis heute erhalten sie häufig Fehldiagnosen wie zum Beispiel Schizophrenie. Sexualisierte Gewalt in organisierten und ritualisierten Gewaltstrukturen als Gewaltform in Versorgungsstrukturen ist in der Wissenschaft und der Gesellschaft bisher wenig sichtbar, obwohl sich Betroffene seit Jahrzehnten an das Hilfesystem wenden. Doch medial bekannt gewordene Fälle wie die von Staufen, Lügde oder Bergisch-Gladbach sowie die polizeiliche Kriminalitätsstatistik zur sogenannten „Kinderpornografie“, die 2021 über 39.000 Fälle ausweist, sprechen für sich.

Spezialisiertes Beratungsangebot

Seit 1. November 2020 fördert das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg Wildwasser Stuttgart bei der modellhaften Erprobung eines spezialisierten Beratungsangebots für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte aus ganz Baden-Württemberg zum Thema organisierte sexualisierte Gewalt.

Das Projekt stößt auf sehr große Resonanz und konnte unter anderem folgende Projektziele erfolgreich umsetzen:

  • Beratung von Frauen*, die von organisierter sexualisierter und/oder ritueller Gewalt betroffen sind, betroffen waren oder damit als helfende Person und/oder Fachkraft konfrontiert werden

  • Aus- und Aufbau von landesweiten Netzwerken sowie Intervisionsgruppen

  • Fortbildung von Mitarbeitenden spezialisierter Fachberatungsstellen sowie anderen Institutionen, um Kompetenzen vor Ort auszubauen und eine bessere Versorgungsstruktur von Betroffenen zu ermöglichen

  • Regelmäßige Schulungen der Kriminalpolizei

  • Landesweite Vernetzung mit Vertreter*innen aus Sozial-, Staats-, Innen- und Justizministerium

  • Bundesweite Vernetzung mit Akteur*innen aus Wissenschaft, Dachverbänden sowie Betroffenenvertretungen

Durch die mediale Präsenz des Themas sowie durch das Angebot des bundesweiten Hilfetelefons Berta, die Betroffene aus Baden-Württemberg an Wildwasser Stuttgart verweisen, sind die Anfragen von Betroffenen sowie Professionellen stark gestiegen. Fast täglich erreicht die Beratungsstelle ein Anruf oder eine E-Mail, in der um Unterstützung und Beratung gebeten wird.

Betroffene haben oft erst im späteren Erwachsenenalter in Form von Flashbacks und Alpträumen Zugang zu ihren Kindheitserfahrungen und reagieren zunächst mit Ab- wehr. Viele haben als Überlebensstrategie eine dissoziative Persönlichkeitsstruktur entwickelt. Bei einer Dissoziativen Identitätsstörung gibt es zwei oder mehr unterscheidbare Persönlichkeitsanteile innerhalb eines Menschen. Jeder Persönlichkeitsanteil hat ein eigenes Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selbst, dem eigenen Körper und der Umgebung. Verschiedene dieser Persönlichkeitsanteile übernehmen wiederholt die exekutive Kontrolle über das Bewusstsein und das Handeln der Betroffenen. Subjektiv wird dies erlebt als nicht zu sich gehörendes Verhalten, Stimmen hören, Erinnerungslücken, Flashbacks, Erstarren oder anderes.

Wartezeiten bei ambulanter Traumatherapie

Die Wartezeiten für eine ambulante Traumatherapie sind sehr lange, und die Betroffenen werden auf Grund ihrer komplexen Problematik häufig abgelehnt. Das reguläre Hilfesystem hat meist zu hohe Hürden und ist zu wenig vernetzt. Helfer*innennetze sind schnell überfordert und es besteht die Gefahr einer sekundären Traumatisierung. Daher ist es Wildwasser ein besonderes Anliegen, diese zu stärken und Handlungskompetenz zu vermitteln. Wie wichtig die Fortbildungen sind, zeigt u.a. folgende Rückmeldung einer Teilnehmerin:

„Herzlichen Dank, dass ihr Euer Wissen und Eure Erfahrungen mit uns teilt. So wie ihr die Fortbildung umgesetzt habt, konnte ich mir super vorstellen, wie ihr mit Klientinnen arbeitet. Sicherheit vermittelnd trotz der Schwere des Themas. Dies nimmt auch mir die Angst, mit dieser Klientel zu arbeiten und macht Mut, dass wir uns gemeinsam als Beratungsstellen besser zum Thema aufstellen können.“

Das Modellprojekt endet am 31. März 2024. Die Bedarfe Betroffener und Fachkräfte noch lange nicht.

Yvonne Wolz

Geschäftsführung

Wildwasser Stuttgart e.V.

 

Beitrag aus PARITÄTinform 1/2023

 

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