Um ein Bild der aktuellen Situation und der Zukunftsaussichten der Kinder- und Jugendhilfe zu erhalten, hat die Redaktion ein Interview mit zwei langjährig erfahrenen Experten aus der Praxis geführt:
- Holger Gläss, Jugendamtsleiter Rems-Murr-Kreis, und
- Roland Berner, Vorstand Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e.V.
Die beiden geben ihre Einschätzungen aus ihrem jeweiligen Blickwinkel zu fünf zentralen Fragestellungen.
Was zeichnet die Kinder und Jugendhilfe heute aus?
Holger Gläss: Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) wächst seit Jahrzehnten enorm an und ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Infrastruktur. Dies lässt sich an der Zahl der in der KJH Beschäftigten und am Professionalisierungsgrad ebenso ablesen wie an den ausgegebenen Mitteln oder den Zuständigkeiten und Themen, die der KJH zugetraut und zugemutet werden.
Ein prägendes Merkmal und eine unverzichtbare Bedingung einer gelingenden KJH ist: Sie funktioniert nur als Ganzes gut. Eine gut ausgebaute Basis an Regeleinrichtungen (Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit, Familienbildung, Frühe Hilfen etc.) ist ebenso wichtig wie passgenaue und ressourcenorientierte Beratungs- und Unterstützungsangebote (sämtliche Hilfen zur Erziehung) oder zuverlässige und belastbare Angebote zur Krisenintervention (u.a. Inobhutnahmen, Kinderschutz).
Roland Berner: Die Kinder- und Jugendhilfe ist eines der zentralen sozialen Unterstützungssysteme für junge Menschen und ihre Familien. Sie ist extrem vielseitig und hat in den vergangenen Jahren wie kaum ein anderer Bereich des Bildungs- und Sozialwesens an gesellschaftlicher Bedeutung, aber auch an Akzeptanz gewonnen.
Worin sehen Sie die aktuellen Herausforderungen in Ihrem Arbeitsalltag?
Roland Berner: Das ist sicherlich – und damit steht die Kinder- und Jugendhilfe alles andere als alleine da – die Gewinnung von Fachkräften. Die Berufsgruppe der Erzieher*innen und der Sozialpädagog*innen zählen schon jetzt zu den Engpassberufen und dabei erlebe ich Fachschulen mit Wartelisten, Bewerber*innenzahlen, die Studienplätze immer noch übersteigen. Es gehen zu viele Interessierte verloren: nicht nur vor, sondern auch während der Ausbildung und an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf.
Holger Gläss: An vielen Stellen funktioniert dies leider nicht mehr reibungslos. Verkürzte Öffnungszeiten in Kitas, lange Wartezeiten in Beratungsstellen oder bei ambulanten Hilfen, längere Abstände zwischen Hilfeplangesprächen, der Mangel an stationären Plätzen für jungen Menschen, für Inobhutnah- men und für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind die offenkundigsten Alarmzeichen.
Bei dieser Mangelverwaltung stellt das Aufrechterhalten von zentralen fachlichen Standards vermutlich die größte Herausforderung für alle in der KJH engagierten Fachkräfte dar: Gewährleistung von Rechtsansprüchen auch außerhalb des Kinderschutzes, die Beteiligung der Betroffenen oder die Weiterentwicklung von Konzeptionen.
Was macht die Kinder- und Jugendhilfe zukunftsfähig?
Holger Gläss: Damit die KJH dem benannten zentralen Stellenwert in der Gesellschaft gerecht werden kann, muss sie
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mit anderen Professionen (allen voran Schule und Kinder- und Jugendpsychiatrie) gut kooperieren und rechtskreisübergreifende Angebote und Finanzierungsformen entwickeln,
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sich mit den Ergebnissen der Wirkungsforschung auseinandersetzen, um zu vermeiden, dass die immer geringer werdenden Ressourcen falsch eingesetzt werden,
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konsequenter als bislang die Beteiligung von jungen Menschen und Familien ernst nehmen.
Roland Berner: Natürlich sorge ich mich zuallererst um die Erziehungshilfen: dabei müssen wir deutlich machen, was für ein interessantes, vielfältiges und sinnstiftendes Tätigkeitsfeld die Arbeit z. B. in einer Wohngruppe tatsächlich ist – mit flexiblen Arbeitsmöglichkeiten. Dies erfordert aber auch eine angemessene, faire Bezahlung und es gehört eine Personalausstattung dazu, die es den dort Tätigen ermöglicht, den Anforderungen auch gerecht zu werden und die nicht von Kompensation, Mangel und von Lücken gekennzeichnet ist.
Wohin darf sich die Jugendhilfe nicht bewegen?
Roland Berner: Die Kinder- und Jugendhilfe darf nicht in eine Art „Problemtrance“ verfallen, sich ängstlich nur auf den Erhalt des Bestehenden reduzieren, sich von den fiskalischen Argumenten in den politischen „Kampfarenen“ dominieren lassen. Sie darf sich nicht davon abbringen lassen, auch weiterhin das Aufwachsen junger Menschen institutionell zu begleiten und zu unterstützen. Das Mandat, selbstbestimmte Lebensentwürfe und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen darf sie nicht abgeben.
Holger Gläss: Die Träger und Akteure in der KJH dürfen nicht denselben Fehler machen, den die Gesellschaft in Sachen Wirtschaft und Klima seit Jahren vorlebt. Sie darf nicht auf unbegrenztes und unreflektiertes Wachstum setzen. Dafür reichen die Ressourcen – im einen wie im anderen Bereich – nicht aus!
In Zeiten von Standardabsenkungen und Krisenszenarien beobachte ich eine Erosion dessen, was die Jugendhilfe über Jahre stark gemacht hat: der Verantwortungsgemeinschaft öffentlicher und freier Träger. Ein Gegeneinander dieser beiden Player bei Entgeltverhandlungen, der Aufnahme- oder Entlasspraxis in Jugendhilfeeinrichtungen oder eine zunehmende Konkurrenz unter freien Trägern wären fatale Entwicklungen.
Die Kinder und Jugendhilfe in zehn Jahren wird …
Holger Gläss: … sich von der heutigen deutlich unterscheiden. Das gut funktionierende „Duo“ freie und öffentliche Träger wird sich zu einem „Trio“ erweitern. Selbstorganisierte Zu- sammenschlüsse, Peerberatung und bürgerschaftliches En- gagement werden die Leistungen der Jugendhilfe ergänzen.
Roland Berner: Sie muss
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deutlich mehr Arbeits- und Kooperationsbezüge zur Schule aufweisen,
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weiterhin auf dem Weg sein, eine inklusive und sozialräumliche, gemeinwesenorientierte Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe voranzubringen,
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einen Bedeutungszuwachs mit Blick auf die Demokratieförderung, die Demokratiebildung und die Extremismusprävention erlangen,
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es hoffentlich geschafft haben, mit ihrem Ideenreichtum den Mangel an Fachkräften zu beheben.
Danke für das Gespräch an
Roland Berner
Vorstand
Linzgau Kinder- und Jugendhilfe
Holger Gläss
Amtsleiter Kreisjugendamt Rems-Murr
Beitrag aus ParitätInform 2/2024