Zum Jahresende 2022 lebten mehr als 3,1 Millionen junge Menschen bis 27 Jahre in Baden-Württemberg, über 1,95 Millionen davon minderjährig. Der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung im Land betrug 27,6 Prozent. Somit sind mehr als ein Viertel aller Einwohner*innen in Baden-Württemberg Adressat*innen des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII – Kinder- und Jugendhilfe.¹ Doch was bedeutet dies konkret? Welche Entwicklungen zeichnen sich ab?
Dafür steht die Kinder- und Jugendhilfe
Junge Menschen haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf eine Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Dieses Recht ist nicht nur im SGB VIII verankert, sondern das Gesetz führt konkret aus, wie Kinder- und Jugendhilfe mit verschiedenen Aufgaben, Angeboten und Leistungen die Umsetzung verwirklichen soll. Dabei geht es u.a. um individuelle Förderung, Abbau und Vermeidung von Benachteiligungen, die Teilhabe in unserer Gesellschaft und die Schaffung von positiven Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien, aber auch um den Kinderschutz. Gerade die Vermeidung bzw. Abwendung einer Kindeswohlgefährdung ist ein wichtiger Auftrag. Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt und hält ein breites und vielfältiges Leistungsspektrum vor, welches von der Familienförderung, Beratung, Kindertagesbetreuung, Angeboten der Jugendarbeit und Schulsoziarbeit bis hin zu individuellen Hilfen für junge Menschen reicht. Betrachtet man die eigene Biografie, wird schnell klar, dass fast jede*r von uns im Kindes- oder Jugendalter von diesen Angeboten profitierte oder Unterstützung bei der Erziehung bzw. Betreuung der eigenen Kinder bekam. Die Kinder- und Jugendhilfe ist deshalb als wichtiger Bestandteil unserer Daseinsfürsorge nicht mehr wegzudenken. Wie sieht es jedoch aktuell mit der Umsetzung in der Praxis aus?
7.702 Inobhutnahmen in 2022
In akuten Krisensituationen werden Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zu ihrem Schutz von Jugendämtern in Obhut genommen. Sie werden vorläufig in einer geeigneten Einrichtung oder bei einer geeigneten Person untergebracht. Ein solches Eingreifen der Jugendämter war nach Feststellung des Statistischen Landesamtes im Jahr 2022 in Baden-Württemberg 7.702 Mal der Fall. Ein Plus von 2.939 im Vergleich zum Vorjahr.
Quelle: Statistisches Landesamt
Ein Realitätscheck
Die politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sind in den vergangenen Jahren nicht spurlos an der Kinder- und Jugendhilfe vorbeigegangen. Die Folgen der Isolation junger Menschen und ihrer Familien in der Coronazeit waren zuerst nicht im Blick und wurden schlichtweg unterschätzt. Mit den Auswirkungen auf die Entwicklung der jungen Menschen und ihre psychische Gesundheit ist die Kinder- und Jugendhilfe noch heute beschäftigt und versucht, diesen mit verschiedensten Angeboten gerecht zu werden. Zudem ist der Bedarf an stationären Hilfen in Form von Unterbringung in einer Einrichtung oder in einer Pflegefamilie gewachsen, insbesondere aufgrund der gestiegenen Zahl an unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten.
Durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, welches zum 10. Juni 2021 in Kraft trat, kamen weitere neue Aufgaben hinzu. Als wichtige Meilensteine sind die Stärkung der Rechte der jungen Menschen und ihrer Eltern, Partizipation und Selbstvertretung sowie die Umsetzung eines inklusiven SGB VIII mit einer Zuständigkeit für alle jungen Menschen mit und ohne Behinderungen zu nennen. Nicht zu vergessen ist dabei die Verbesserung des Übergangs aus der Jugendhilfe in das Erwachsenenleben für Care Leaver. Ab 1. Januar 2026 kommt die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder hinzu. Ist dies alles zu leisten?
Die Kinder- und Jugendhilfe stößt bei der Bewältigung ihrer Aufgaben bereits jetzt an ihre Grenzen und dies sowohl bei den Jugendämtern als auch den freien Trägern. Es fehlt an Personal und perspektivisch verstärkt an finanziellen Mitteln. Manche der „neuen“ Aufgaben bleiben deshalb unerledigt und stehen hinten an.
Personalmangel mit gravierenden Auswirkungen
Jugendämter können aufgrund von Personalmangel ihre Aufgaben nicht mehr vollumfänglich erfüllen. Es besteht die Gefahr, dass sich perspektivisch ein Rückzug auf die hoheitlichen Kernaufgaben ergibt und primär der Schutz vor Kindeswohlgefährdung im Vordergrund steht. Freie Träger müssen Gruppen in ihren stationären Einrichtungen schließen, weil ihnen das Personal fehlt. Die Arbeit im stationären Bereich wird im Vergleich zu den anderen Aufgabenfeldern immer unattraktiver, da die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. die Work-Life-Balance deutlich in Schieflage geraten. Bereits jetzt schon verlässt jede*r Dritte in der Berufseinstiegsphase die stationäre Kinder- und Jugendhilfe nach zwei Jahren wieder.² Ganz zu schweigen vom sukzessiven Renteneintritt der langjährig in der stationären Jugendhilfe tätigen Personen (55 Jahre und älter) bis 2030. Der Personalmangel wird ohne entsprechende Gegenmaßnahmen deutliche Auswirkungen zeigen. Die Personalgewinnung und -bindung muss dringend vorangebracht werden.
Zeitenwende in der Kinder- und Jugendhilfe
Die Herausforderungen spiegeln eines wider: Es ist jetzt an der Zeit zu reagieren, Lösungsansätze aufzugreifen und neue Ideen zu entwickeln, um den Auftrag des SGB VIII zu erfüllen. Ergänzend bedarf es eines neuen Blickwinkels und einer neuen Ausrichtung, immer unter Beachtung der Sicherstellung der Teilhabe, der Persönlichkeitsentwicklung und des Kinderschutzes. Jugendhilfe neu zu denken wird die Aufgabe der Zukunft sein!
Dazu braucht es nicht nur fachliche Einschätzungen und Ressourcen, sondern Möglichkeiten der Beteiligung und Selbstvertretung junger Menschen. Es sind vor allem politische Entscheidungsträger*innen gefragt, junge Menschen im Blick zu behalten und bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen – für eine gute Zukunft und positive Rahmenbedingungen für die heranwachsende nächste Generation.
Der Paritätische fordert
- Sicherstellung auskömmlicher finanzieller Mittel für eine zukunftsfähige Ausgestaltung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe
- Verstärkte Förderung von Ausbildung sowie Gewährleistung einer adäquaten Anleitung für Auszubildende im Rahmenvertrag SGB VIII in Baden-Württemberg
- Weiterentwicklung und Verbesserung der Rahmenbedingungen im stationären Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (siehe Paritätisches Positionspapier: Zukunftsfähige und starke Kinder- und Jugendhilfe)
- Weitere Förderung und Sicherstellung struktureller Angebote für alle jungen Menschen wie Kinder- und Jugendarbeit sowie Schulsozialarbeit
- Schaffung struktureller Angebote und Sicherstellung der Nachbetreuung von Care Leavern in allen Jugendamtsbezirken im Land
- Flächendeckende Beteiligungsmöglichkeiten und -strukturen für junge Menschen zur Berücksichtigung ihrer Anliegen bei politischen Entscheidungen und Maßnahmen auf kommunaler Ebene
¹ Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
² vgl. Zeller, M. (2016); Stationäre Erziehungshilfen, in: Schröer, W., Struck N., Wolff, M. (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim und Basel, S. 792-812
Beitrag aus ParitätInform 01/2024