Gewaltschutz ist in Baden-Württemberg eine sogenannte Freiwilligkeitsleistung, die aufgrund der Kommunalisierung in Baden-Württemberg den Städten und Landkreisen obliegt. In den vergangenen Jahren konnte der Ausbau an Frauenhausplätzen und ambulanter Beratung dank kräftiger Unterstützung von Bund und Land gestärkt werden. Eines ist aber klar: Mit dem aktuellen Status Quo erfüllen wir die Anforderungen der Istanbul-Konvention¹ noch nicht. Spezialisierte Beratung nach Gewalt ist kein flächendeckendes Regelangebot in Baden-Württemberg und den Frauenhäusern fehlen Plätze, um alle schutzsuchenden Frauen aufnehmen zu können. Die Istanbul-Konvention verpflichtet aber Schutz und Hilfe bedarfsgerecht vorzuhalten. Was gibt es nun in den einzelnen Landkreisen und Kommunen zu tun?
Die Gewaltbetroffenheit…
Wir wissen aus zwei repräsentativen Dunkelfeldstudien,² dass drei Prozent aller Frauen in Deutschland in den vergangenen 12 Monaten Gewalt durch den Partner erlebten. Jede zehnte von ihnen lebt in einer Misshandlungsbeziehung. Das heißt sie erleidet regelmäßig Gewalt und trägt häufig Verletzungen davon. Für Baden-Württemberg hochgerechnet bedeutet das in Zahlen: es leben rund 4.900.000 Frauen ab 16 Jahren im Land. In den vergangenen 12 Monaten haben rund 147.000 Frauen Gewalt durch den Partner erfahren. In einer Misshandlungsbeziehung leben ca. 14.700 Frauen. Nicht zu vergessen sind die Kinder, die von häuslicher Gewalt mitbetroffen sind. Gehen wir davon aus, dass jede Frau 1,5 Kinder hat, so leben 220.050 Kinder in Familien, in denen es im vergangenen Jahr zu Gewalt gegen die Mutter kam.
Auch in Bezug auf sexuelle Gewalt gegen Frauen im Erwachsenenalter liefern die beiden Studien Zahlen. So erlebte rund ein Prozent der Frauen in Deutschland in den vergangenen 12 Monaten sexuelle Übergriffe, wobei hier ausschließlich Nötigung und (versuchte) Vergewaltigung gefasst wurden. Das ergibt für Baden-Württemberg eine Gewaltbetroffenheit von 49.000 Frauen im Jahr. Und hier ist noch keine Frau dabei, die in der Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt wurde und welche die Erinnerung im Erwachsenenalter einholt.
... und das Angebot an Frauenhausplätzen
Aktuell haben wir in Baden-Württemberg 44 Frauenhäuser mit rund 350 Plätzen für Frauen plus ca. 500 Kinderplätze. Die jährliche Auslastung der Plätze liegt zwischen 80 und 85 Prozent. Dies kommt einer Vollbelegung gleich, denn die Mehrbettzimmer können nicht immer platzgenau belegt werden. Es kommt zwangsläufig dazu, dass immer wieder ein Bett frei bleibt. Die Istanbul-Konvention empfiehlt die Vorhaltung eines Familienplatzes pro 10.000 Einwohner*innen pro Region. Das ergäbe für Baden-Württemberg einen Bedarf von 1.130 Frauenplätzen plus ca. 2.700 Kinderplätze – also ein Vielfaches mehr als wir haben. Zugleich wird jedoch betont, dass die Platzzahl auf den tatsächlichen Bedarf abgestimmt werden soll. Und dieser dürfte in Relation zum Ausbau an spezialisierter Fachberatung stehen.
An dieser Stelle soll der Versuch einer Berechnung gewagt werden: Wir haben 14.700 akut misshandelte Frauen im Land. Gehen wir davon aus, dass jede Fünfte einen Frauenhausplatz in Anspruch nehmen möchte, da gleichzeitig die ambulanten Hilfen gut ausgebaut wurden. Die durchschnittliche Verweildauer im Frauenhaus liegt bei drei Monaten. Ein Platz kann also vier Mal jährlich belegt werden. Die Rechnung lautet somit: 14.700 Frauen : 5 : 4 = 735 Frauenplätze plus 1.100 Kinderplätze. Dieses vorläufige Ziel sollte angestrebt werden, um im Anschluss daran nochmals zu überprüfen, ob der Bedarf nun gedeckt werden konnte. Jede Kommune und jeder Landkreis kann nun diese Gleichung nutzen, um zu prüfen, was es in Bezug auf den Platzausbau vor Ort noch zu tun gibt.
ca. 147.000 Frauen haben in den letzten 12 Monaten in Baden-Württemberg Gewalt durch den Partner erfahren.
44 Frauenhäuser mit rund 350 Plätzen für Frauen plus ca. 500 Kinderplätze gibt es aktuell in Baden-Württemberg. Die jährliche Auslastung liegt zwischen 80 und 85 Prozent.
Spezialisierte Frauenberatungsstellen
Und wie ist es um die Versorgung mit spezialisierten Frauenberatungsstellen bestellt? In der Bundesrepublik haben wir in diesem Feld eine Dreiteilung: Es gibt Frauenberatungsstellen im Bereich häusliche Gewalt; Interventionsstellen nach Polizeieinsätzen und Frauennotrufe bei sexueller Gewalt. Trotz einer baden-württembergischen Evaluation³ aus dem Jahr 2019 lassen sich kaum Aussagen zum Bestand treffen. Nur so viel: Insgesamt 120 Frauen- und Interventionsstellen wie Frauennotrufe beteiligten sich an der Evaluation. Klingt viel. Durchschnittlich haben sie aber weniger als ein Vollzeitäquivalent Personalkapazität. Es scheint sich bei mancher Fachberatungsstelle eher um ein fachspezifisches Angebot zu handeln.
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe empfiehlt in Bezug auf die ambulante Versorgung in Regionen mit je 100.000 Einwohner*innen zu denken. Die Fachberatung zu allen drei oben genannten Feldern sollte insgesamt mit acht Vollzeitäquivalenten ausgestattet werden. Dieses Personalvolumen sichert die Versorgung der Gewaltopfer sowie Prävention, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit.⁴
Für Baden-Württemberg bedeutet diese Empfehlung: 110 Versorgungsregionen, ausgestattet mit je acht Vollzeitkräften. Und nein, allgemeine Beratungsstellen sind hier nicht mit gemeint. Man kann in diesem Feld auch viel falsch machen. Es bedarf entsprechend der Istanbul-Konvention einer feministisch-parteilichen und hoch qualifizierten Praxis. Und auch hier können nun Landkreise und Kommunen prüfen, wie es um die Versorgung vor Ort bestellt ist. Und ja, es wird deutlich nachzubessern sein.
Nun heißt es ran an den Taschenrechner! Für ein entschlossenes Nein gegen Gewalt an Frauen, hier bei uns in Baden-Württemberg!
Der Paritätische fordert
- Die entschlossene Umsetzung der Istanbul-Konvention in allen Landkreisen und Kommunen in Baden-Württemberg
- Die Verstetigung der Kofinanzierung der Mobilen Teams der Fachberatungsstellen im Bereich Gewaltschutz und Prostitution von kommunaler Seite
- Den Einsatz der Landkreise und Kommunen für die Realisierung des Gewalthilfegesetzes auf Bundesebene
¹ Europäisches Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt
² Schröttle, M. u.a. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Im Auftrag des BMFSFJ European Agency for Fundamental Rights (FRAU) (2014): Violence against Women: an EU-wide Survey
³ Ev. Hochschule Ludwigsburg (2019): Bestands- und Bedarfsabfrage der Fachberatungsstellen in Baden-Württemberg im Auftrag des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg
⁴ Bff (2018): Broschüre „Stark für die Gesellschaft – gegen Gewalt“
Beitrag aus ParitätInform 01/2024