Heute am Abgrund, morgen schon einen Schritt weiter?

Fachinformation - geschrieben am 12.07.2023 - 08:55
Seilkünstler balanciert zwischen zwei Hochhäusern

Auswirkungen der Krise(n) auf die Sozialwirtschaft

Die vergangenen Jahre waren und sind Zeiten multipler Krisen und veritabler Katastrophen. Das hat vielfältige Ursachen. Eine davon ist, dass gesellschaftliche Mechanismen der Risikovorsorge seit den 1990er Jahren reduziert wurden. Liest man das Buch „Risikogesellschaft“ des Soziologen Ulrich Beck aus dem Jahr 1986 neu, findet man viele der damaligen Risiken als gegenwärtige Krisen verwirklicht. Seit seinem Erscheinen ist kollektive Risikovorsorge zugunsten des Marktes geschwächt worden, häufig auch zu Lasten der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege und der dort engagieren Menschen.

Weitere gesellschaftspolitische Stationen auf dem Weg waren die Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit 1990 und die in den Folgejahren betriebene Privatisierung öffentlicher Wohnungsbestände, die Einführung und stärkere Ökonomisierung der Pflege und des Krankenhausbereichs, die Abkehr von der Lebensstandardsicherung in der Alterssicherung und schließlich die Hartz-Gesetze. Unsere Gesellschaft wurde damit krisenanfälliger. Mit den betroffenen Menschen spürt die Wohlfahrtspflege die Folgen dieser Entwicklung besonders stark.

Die vergangenen Jahre haben dabei Spuren hinterlassen. Mit der Pandemie wurden vor allem soziale Einrichtungen und Dienste mit Mehrausgaben bei gesunkenen und teilweise weggebrochenen Einnahmen konfrontiert. Steigende Personalkosten und inflationsbedingte Kostensteigerungen, von denen gestiegene Energiekosten nur einen Teil ausmachten, haben die Rücklagen vieler Organisationen aufgezehrt. Das trifft die Träger in einer Situation äußerster Verwundbarkeit.

Dringend notwendige Unterstützungsmaßnahmen müssen immer wieder neu erkämpft werden. Die Unterstützungsmöglichkeiten durch das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) zu Beginn der Pandemie waren lange umstritten. Die „Systemrelevanz“ der sozialen Infrastruktur geriet schnell wieder in Vergessenheit. Mit den dramatischen Kostensteigerungen für Energie und Wärme im Herbst 2022 gerieten viele soziale Einrichtungen und Dienste in akute Gefahr, ohne dass zusätzliche Hilfen selbstverständlich gewesen wären. Gleichermaßen als Bestandsaufnahme und Hilferuf hat der Paritätische am 21. Oktober 2022 die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter seinen Mitgliedsorganisationen vorgestellt. An der Umfrage hatten sich zuvor innerhalb weniger Tage 1.366 Paritätische Einrichtungen und Dienste beteiligt. Die Ergebnisse waren erschütternd: 90 Prozent der Befragten sahen ihre Einrichtungen gefährdet. 46 Prozent gaben an, ohne zusätzliche Hilfen weniger als ein Jahr durchhalten zu können. 77 Prozent gaben an, dass ihnen die Mittel fehlten, in regenerative Energien und Klimaschutzmaßnahmen investieren zu können. Der Handlungsbedarf war dadurch deutlich markiert. Die Veröffentlichung der Ergebnisse während der Erarbeitungszeit von Vorschlägen der durch das Bundeswirtschaftsministerium eingesetzten Expertenkommission zu Gas und Wärme, flankiert durch die Beteiligung des Paritätischen an Demonstrationen für einen „Solidarischen Herbst“, haben einen Beitrag dazu geleistet, dass Bund und Länder in dieser Situation zusätzliche Hilfen für die soziale Träger bereitgestellt haben.

Die Finanzsituation gemeinnütziger Dienste muss strukturell erheblich verbessert werden

Die vorerst jüngste Unterstützung ist ein neuer Härtefallfonds für gemeinnützige Träger im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Familien, Frauen, Senioren und Jugend. Ab dem 15. Juni 2023 können daraus unter bestimmten Umständen Mittel beantragt werden.[1] Solche Hilfen waren und sind nötig. Sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzsituation gerade der gemeinnützigen Dienste strukturell erheblich verbessert werden muss. Dauerhafte Mehrausgaben erfordern eine deutlich bessere, nachhaltige Finanzierung. Davon sind wir noch weit entfernt: „Von den Kitas, der Pflege über den offenen Ganztag bis hin zu Frauenhäusern und Migrationsberatung. Den Einrichtungen und Diensten steht das Wasser bis zum Hals, die Lage ist mehr als kritisch“, so resümierte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege NRW, Christian Woltering, Anfang Juni in einer kritischen Bestandsaufnahme. Dieser Befund gilt nicht nur über die verschiedenen Arbeitsfelder der Wohlfahrtspflege, er gilt bundesweit.

Beispiel ambulante und stationäre Altenpflege

Die ambulante und stationäre Altenpflege bietet ein besonders eindrückliches Beispiel für die Entwicklungen. Nach- dem mehrere große Anbieter Insolvenz anmelden mussten, sprach etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) im Frühjahr 2023 bereits von einer »Pleitewelle«2 in der Branche. Viele weitere Bestandsaufnahmen und Analysen bestätigten seitdem diese Entwicklungen. Noch gibt es etwa 11.700 Heime in Deutschland. Allein im vergangenen Jahr verschwanden jedoch nach Angaben des Informationsportals Pflegemarkt.de 142 Heime und 431 Pflegedienste vom Markt. Im ersten Quartal 2023 ist von bereits 200 Insolvenzen die Rede – eine fatale Entwicklung in einer Situation, in der der Bedarf an Pflege aufgrund des demografischen Wandels stetig steigt. Die Ursachen des gewachsenen Drucks auf die Träger sind vielfältig. Der Mangel an Pflegekräften zählt dazu. Träger, die fehlende Fachkräfte über Leiharbeitende ausgleichen, müssen für diese deutliche Mehrausgaben in Höhe des etwa des zwei- bis dreifachen der regulären Löhne aufwenden. Ausgaben in dieser Höhe werden von den Pflegekassen jedoch nicht refinanziert. Kann ein Verlust an Pflegekräften nicht durch Neueinstellungen oder Leiharbeitende kompensiert werden, droht wegen der vorgeschriebenen Fachkraftquoten eine Einschränkung des Leistungsangebotes. Das stürzt Pflegebedürftige in Unsicherheit und gefährdet den wirtschaftlichen Betrieb der Einrichtungen.

Von den Kitas, der Pflege über den offenen Ganztag bis hin zu Frauenhäusern und Migrationsberatung. Den Einrichtungen und Diensten steht das Wasser bis zum Hals, die Lage ist mehr als kritisch.

  • Christian Woltering, Vorsitzender der Liga der Freien Wohlfahrtspflege NRW

Inflationsbedingten Preissteigerungen eine zusätzliche Belastung

Die inflationsbedingten Preissteigerungen sind trotz der inzwischen in Kraft getretenen Kostenbremsen eine zusätzliche Belastung. Steigende Lebensmittel-, Heizungs-, Strom- und Spritpreise belasten ambulante und stationäre Einrichtungen, die an laufende Verträge mit Pflegekassen, Sozialhilfeträgern und Gepflegten gebunden sind. Verträge mit den Pflegekassen und örtlichen Sozialhilfeträgern müssen, um zu höheren Entgelten zu kommen, in einem aufwändigen Verfahren neu verhandelt werden. Die gestiegenen Kosten werden in dieser Zeit nicht refinanziert, entsprechend gering ist häufig das Interesse der Kassen und Sozialhilfeträger an schnellen Abschlüssen. Während solche Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen, die in der Hand von großen, profitorientierten Unternehmen sind, über genügend Rücklagen aus Gewinnen verfügen, um diese Zeiten zu überbrücken, und öffentliche Träger durch die öffentliche Hand gestützt werden, ist das bei gemeinnützigen und kleinen, oft familiär geführten gewerblichen Diensten und Einrichtungen häufig nicht der Fall. Viele von ihnen sind ohnehin bereits durch die mit der Pandemie verbundenen Mehrbelastungen an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt und drohen, durch die unvorhergesehenen Preissteigerungen über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus beansprucht zu werden.

Verstärkte Ökonomisierungstendenzen

Auch die Pflegebedürftigen sind längst am Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten angekommen, immer größere Anteile sogar schon darüber hinaus gegangen. Schon zu Beginn der Inflation waren die Kosten gerade einer vollstationären Pflege erheblich. Trotz zusätzlicher Entlastungen und einer Rentenerhöhung waren 2022 mehr als 30 Prozent der Heimbewohner*innen auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. Deren Zahl ist seitdem erneut gestiegen. Der Kostendruck auf Betroffene, Einrichtungen und Dienste bleibt hoch. Gerade profitorientierte Fondsgesellschaften und Ketten können diese Situation für sich nutzen und Marktanteile ausbauen. Kleine, gemeinnützige Träger ohne große Kapitalreserven haben unter diesen Bedingungen das Nachsehen. Die Folge ist, dass einer Branche, deren Leistungsfähigkeit mit ihren Beschäftigten und den auf gute Pflege angewiesenen Menschen durch die Stärkung der Profitorientierung extrem gelitten hat, nun eine neue Runde verstärkter Ökonomisierungstendenzen droht. Die gegenwärtige Inflationskrise trägt dadurch bereits die Potenziale für zukünftige Krisen in sich.

Paritätischer fordert Vorrang für Gemeinnützigkeit

Die Inflation trifft nicht alle Menschen gleich, und sie trifft auch nicht alle Unternehmen gleich. Sie kann verheerende Folgen gerade für die sozialen Einrichtungen und Dienste haben, die in den vergangenen Krisen dazu beigetragen haben, die Krisenfolgen abzufedern und auszugleichen. Das ist fatal, denn Renditen kommen auch in der Pflege nicht aus dem Nichts, für sie zahlt jemand einen Preis. Nämlich die Beschäftigten durch zu niedrige Löhne, die Pflegebedürftigen durch eine zu schlechte Versorgungsqualität und wir alle durch eine ausgedünnte und vernachlässigte Infrastruktur. Das ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler forderte deshalb: „Versorgungsverträge sollten nur noch mit gemeinnützigen beziehungsweise kommunalen Pflegeeinrichtungen geschlossen werden“.[3] Im österreichischen Burgenland ist man diesen Schritt bereits gegangen. Mit dem 2019 beschlossenen Sozialeinrichtungsgesetz wurde beschlossen, dass Leistungsanbieter von Behinderten- und Pflegeeinrichtungen, die Landesmittel beziehen, nach einer Übergangszeit von vier Jahren gemeinnützig wirtschaften müssen Die Wiedereinführung eines Vorrangs gemeinnützige Träger gehört deshalb oben auf die politische Tagesordnung. Im Bereich Wohnen hat sich die Bundesregierung bereits darauf verständigt, die Wohngemeinnützigkeit wieder einzuführen. Weitere Bereiche müssen folgen.

Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen sind Vertrauensdienstleistungen. Vertrauen entsteht, wächst und besteht aber nur dort, wo Renditeerwartungen aus dem Spiel sind, qualitative hochwertige Dienstleistungen koproduziert werden und finanzielle Rahmenbedingungen über das Notwendigste hinaus Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Die Freie Wohlfahrtspflege ist wie kein anderer Akteur in der Lage, das einzulösen. „Vorrang für Gemeinnützigkeit“, diese Forderung des Paritätischen ist heute aktueller denn je.

Dr. Joachim Rock

Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik

Leiter des politischen Verbindungsbüros

Der Paritätische Gesamtverband

 

  1. Weitere Informationen dazu finden sich im Internetauftritt des BMFSFJ: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/ gemeinnuetzige-organisationen-und-einrichtungen-bei-energie- kosten-entlasten-226216, Stand: 14.06.2023.
  2. Quelle: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/pflege-in-not-warum-es- bei-altenheimen-eine-pleitewelle-gibt-18721366.html, letzter Abruf: 14.06.23.
  3. www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++133915b6-91bc- 11ed-939f-001a4a16012a

Beitrag aus ParitätInform 2/2023

 

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