Gesundheit als Maßstab

Fachinformation - geschrieben am 04.04.2022 - 15:08
Frau schaut auf Pulsmesser am Arm

„Und bleib gesund!“ oder „Gesundheit!“ wünschen wir einander. Das Corona-Virus verändert unser soziales Miteinander und lehrt uns paritätische Tugenden neu zu schätzen: Toleranz, Offenheit und Vielfalt. Wie vor 30 Jahren HIV/AIDS haben jetzt noch heftiger Corona und Omikron das gesellschaftliche Leben durchgerüttelt. SARS-CoV-2 ist virologisch kein Killervirus. Das Virus ist gefährlich, lässt sich leicht übertragen, betrifft aber unterschiedliche Menschen auch verschieden schwer. Wir erleiden eine symptomatische Krankheit unserer Lebensweise und unserer ökonomischen Kultur. Die kontaktreiche Beziehungslosigkeit des öffentlichen Lebens, Rivalität und Konkurrenz, Habsucht, Geldgier und Machtversessenheit zerstören das soziale Bindegewebe. Die Corona-Pandemie mahnt uns zu einer sozial-ökologischen Wende. Wir müssen die Achtung vor dem Leben, dem Planeten und den Wert der sozialen Gemeinschaft respektieren. Gesundheit wird so zum Maßstab für gelingende Gesellschaft und auch zum Kompass unseres paritätischen Wirkens. Menschlichkeit und Nachhaltigkeit, also Frieden unter den Menschen und mit der Natur sind die Herausforderung. Das Netzwerk des PARITÄTISCHEN integriert nachhaltig und gemeinwohldienlich soziale Arbeit, Medizin und bürgerschaftliche Selbstorganisation. Das ist zukunftsfähiger als die Profitwirtschaft.

Krankheitserreger und soziale Resilienz

Ein Virus allein macht noch keine Krankheit. Die soziale Situation der betroffenen Menschen und ihre Lebenswelten sind ebenso bedeutsam. Die individuellen und sozialen Immunsysteme entscheiden darüber, ob Krankheitserreger sich durchsetzen können und gefährlich werden. Das lernten wir bereits eindrücklich mit der AIDS-Hilfe, der AIDS-Prävention und der damaligen Pandemie. Konservative Machtpolitiker wollten in ihrer Angst die „Aussätzigen“ in Heimen konzentrieren. Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth aber ging in Kooperation mit Fachleuten wie Rolf Rosenbrock und mit vielen PARITÄTISCHEN Organisationen „neue Wege“.

Nicht das Virus war für uns die Bedrohung, sondern rigide Isolations- und Quarantänemaßnahmen, die soziale Spaltungen forcierten und damit auch die gesellschaftlichen Abwehrkräfte destruierten. Bewältigt wurde die Pandemie durch eine sozial verantwortliche Selbstorganisation, innovative Medizin und neue, partizipative Versorgungskulturen. Erfolgreich war ein lernendes Netzwerk von Selbsthilfe, professionellen Diensten, öffentlichen Institutionen und der Community der betroffenen Menschen, ein tolerantes, offenes und vielfältiges Miteinander aller Akteure, die sich auf ein Leben mit dem Virus einstellten – eine paritätische Kooperationskultur und Handlungspraxis: kreativ, flexibel, innovativ, empathisch, partizipativ und nahe bei den Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten.

Leben mit dem Virus

Wir müssen nun mit den Corona-Viren leben und die mit ihnen einhergehenden Risiken in unseren Lebenswelten auffangen. Corona ist dabei nur eine von vielen Bedrohungen des Lebens. Bedeutsame Faktoren sind aber auch bei dieser Gefahr das Maß an sozialer Ungleichheit, Benachteiligung und Handicaps. Das Fehlen von sozialem Vertrauen trägt zur Infektionsdynamik bei. Die Bewältigung der Gefahr können Gesundheitsämter und staatliche Organe nicht von oben herab für die Menschen, sondern nur in den Lebenswelten mit ihnen zusammen sicherstellen.

Die Selbstorganisation der Infektionsvermeidung bezieht Betroffene als Subjekte ein und nutzt ihre jeweilige Eigenkompetenz. Zentrale Informationskampagnen unterstützen die dezentrale Handlungskultur. Das ist bei der HIV/AIDS Pandemie vorbildlich gelungen. Die politische Führung vertraute damals den betroffenen Bürger*innen und auch der paritätischen Organisationskompetenz. Partizipation und Empowerment waren also erfolgreicher als staatliche Bevormundung.

Bürgerschaftliches Selbstmanagement und Demokratisierung

Demgegenüber war jetzt in der Corona-Pandemie Angst und Panik die hauptsächliche Strategie der politischen Führung. Die Regierung glaubte an die Rohrstockpolitik und traute den Menschen wenig zu. Die Bewältigung einer Infektion oder gar einer „Superspreader-Situation“ ist von der individuellen Lebensführung und der jeweiligen Lebenswelt geprägt. Geht es um ein Pflegeheim, nutzen Ausgangssperren für die Bevölkerung nichts. Ist ein Unternehmen betroffen oder ein Kindergarten, wird es notwendig, die Verbreitung aus diesen kleinen Lebenswelten zu stoppen. Menschen, die die deutsche Sprache nicht beherrschen oder die dem deutschen Gesundheitssystem misstrauen, gehen seltener zur Impfung.

Das lokale und kommunale Pandemiemanagement gelingt mit individuellen, zielorientierten, an den betroffenen Menschen ausgerichteten Maßnahmen, eben mit einer paritätischen Kooperationskultur. Die Menschen und die Einrichtungen brauchen Freiheit in sozialer Verantwortung und kein autoritatives Politik- und Machtverständnis. Eine Politik der Beteiligung verfolgt „Bottom-up“ statt „Top-down“ Strategien und setzt auf bürgerschaftliches Selbstmanagement. Sie investiert in die aktive und informierte Beteiligung der Bürger*innen in ihren jeweiligen Lebenswelten.

Entscheidungen zwischen Ethik und Profit

Corona sei eine „Prüfung unserer Menschlichkeit“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dazu. Diese Prü- fung verlangt von uns Entscheidungen zwischen Ethik und Profit, also eine Gesundheits- und Sozialwirtschaft gegen den Wachstumswahn und die geldgesteuerte Habsucht der kapitalistischen Wirtschaftskultur. Die Grundsätze einer Ge- meinwohlökonomie und einer Gesunden Marktwirtschaft formulieren dazu eine „realistische Utopie“: Krise als Chance für Verhältnisse, die das individuelle und gesellschaftliche Gesundheitspotenzial optimal entfalten und für eine Me- dizin, die der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft wirklich dient. ■

Dr. med. Ellis E. Huber

Berufsverband der Präventologen

www.praeventologe.de

Beitrag aus PARITÄTinform 1/2022

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