Ein junger Erwachsener, der als Geflüchteter in einer stationären Wohngruppe bei einem Jugendhilfeträger untergebracht ist, hat zunehmend mehr psychische Probleme. Seine Bezugsbetreuerin wendet sich an eine mit der Einrichtung kooperierende Therapeutin. Sie habe keine Kapazitäten, verweist aber auf eine App zur Behandlung von Traumafolgen, die dem jungen Mann zunächst weiterhelfen soll.
Digitalisierung löst in der Kinder- und Jugendhilfe Emotionen aus
In unterschiedlicher Ausrichtung werden vor allem die Gefahren oder die Chancen betont. Eine abwägende und vermittelnde Position ist kaum zu finden. Dabei ist es zunächst schwierig, überhaupt zu bestimmen, was Digitalisierung meint. In der Theorie und Praxis scheint sich der Begriff nämlich als Container für ganz Unterschiedliches herauskristallisiert zu haben. Hier einige Beispiele, welche Entwicklungen im Kontext von Digitalisierung besprochen werden:
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Das Einführen einer digitalen Fallakte im Jugendamt
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Die Konzeption einer Online-Beratungsplattform für Careleaver*innen
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Der Einsatz von KI im Kinderschutz
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Das Entwickeln einer App für junge Menschen zur niedrigschwelligen Suchtberatung
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Das Benutzen eines Roboters für die Kindertagesbetreuung
Bei Familie Alpha klingelt es an der Tür. Das Jugendamt stellt sich mit zwei Mitarbeiter*innen vor und bittet um ein Gespräch. Grund des Besuchs ist die dreijährige Beta. Die im Jugendamt neu eingesetzte KI zur besseren Entscheidungsfindung im Kinderschutz hat in der letzten Abfrage eine Gefährdungsmeldung bei Familie Alpha ausgegeben. Der Grund hierfür können die Mitarbeiter*innen nicht umfassend nachvollziehen, denn die Entscheidungsfindung erfolgt mit einem komplexen Algorithmus.
Unterscheidung zwischen Digitalisierung und Digitalität
Viele andere Beispiele in der Kinder- und Jugendhilfe könnten aufgezählt werden. Es ist aber schwierig zu entscheiden, was das Gemeinsame an diesen Entwicklungen ist. Deshalb soll zunächst zwischen Digitalisierung und Digitalität unterschieden werden.
Unter Digitalisierung wird dabei eine im wesentlichen Top- down getriebene Einführung digitaler Technologien in Organisationen und der Fallarbeit verstanden. Diese Auffassung von Digitalisierung entspricht dabei dem Konzept des klassischen Sozialmanagements, das sich neben der effizienten und effektiven Organisation Sozialer Hilfen auch für ihre geregelte Weiterentwicklung im Horizont allgemeiner Modernisierungsprozesse verantwortlich zeigt.
Unter Digitalität hingegen wird das sich Bottom-Up vollziehende Hineintragen bereits alltäglicher, aber (noch) nicht professionell genutzter digitaler Technologien in Praktiken Sozialer Arbeit durch Fachkräfte und Adressat*innen verstanden (Graßhoff & Weinhardt 2023).
Diese Unterscheidung ist für die Einschätzung der Entwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe, auch wenn es zunächst etwas akademisch anmutet, nicht unerheblich. Denn viele Projekte der Digitalisierung zielen genau darauf ab, vermeintlich Strukturen, Abläufe, Verfahren und Prozesse in der Praxis zu modernisieren und damit zu verbessern. Fachlich stellt aber die Einführung einer neuen App oder eine digitale Fallakte oder die Erweiterung von co-präsenter Beratung auf digitale Formate nicht selbstverständlich eine Verbesserung dar. Wichtig in all diesen Prozessen ist, die fachlichen Fragen zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen: Kann ich z. B. junge Menschen mit digitaler Beratung besser erreichen? Führt die Einführung eines Tablets in der Dokumentation einer Familienhilfe zu mehr Transparenz und Vereinfachung oder entsteht zusätzlicher Aufwand und eine Standardisierung der Arbeitsabläufe? Leider wird derzeit an vielen Stellen Digitalisierung mit Innovation gleichgesetzt und dabei nicht beachtet, dass es auch in vielen Handlungsfeldern bereits Erfahrung und Forschung dazu gibt, welches digitale Tool mit welchen Zielgruppen funktioniert.
Digitalität ist der Zugang, der diese fachlichen Positionierungen klarer ermöglicht und davon ausgeht, dass digitale Tools im Alltag allgegenwärtig sind. Die Frage ist mehr, wie diese digitalen Tools in den professionellen Alltag diffundieren und sinnvoll genutzt werden können. Also nicht immer ist Digitalisierung innovativ, aber Digitalisierung bedeutet auch nicht das Ende der Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe.
Blickt man nun auf den Einsatz von KI in der Kinder- und Jugendhilfe so wird man ähnlich resümieren können. In nur ganz wenigen Feldern ist der tatsächliche Einsatz von KI im Alltag die Realität. KI kann zum Beispiel bei der Entscheidungsfindung, vor allem in komplexen Entscheidungssituationen, unterstützen. Das gruselig anmutende Beispiel oben ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht so weit von den technischen Möglichkeiten entfernt. Gleichzeitig zeigen sich in den Ländern, wo solche Tools auch in der Praxis schon ausprobiert werden, zahlreiche Grenzen.
Digitale Tools sind im Alltag allgegenwärtig. Die Frage ist, wie diese digitalen Tools in den professionellen Alltag diffundieren und sinnvoll genutzt werden können. Nicht immer ist Digitalisierung innovativ, aber Digitalisierung bedeutet auch nicht das Ende der Fachlichkeit in der Kinder und Jugendhilfe.
Im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendhilfe und Digitalisierung und KI kann somit resümiert werden:
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Digitalisierung ist weder gut noch schlecht, sondern für Fachkräfte wie auch Adressat*innen eine Realität, mit der wir umgehen.
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Digitalisierung ist nicht per se mit Innovationen in der Kinder- und Jugendhilfe zu verwechseln.
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Es gilt deshalb fachlich auszuloten, an welchen Stellen zur besseren Umsetzung einer bedarfsgerechten Kinder- und Jugendhilfe digitale Tools helfen und wo diese keinen Nutzen haben.
Professor Dr. Gunther Graßhoff
Institut für Sozial- oder Organisationspädagogik Stiftung Universität Hildesheim
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Sozialmagazin Heft 3/4 2023: Was bleibt? Digitalisierung und Soziale Arbeit
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Graßhoff, G., & Weinhardt, M. (2023). Kinder- und Jugendhilfe on remote. Zeitschrift für Sozialisation und Erziehung, 43(2), 171–186.
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Blog von https://marcweinhardt.de
Beitrag aus ParitätInform 2/2024