Den Menschen in den Mittelpunkt stellen

Fachinformation - geschrieben am 03.03.2023 - 15:18
zwei dunkelhäutige Hände werden von zwei hellhäutigen Händen über eine Blindenschrift geführt

Interkulturelle Öffnung und kultursensible Arbeit in der Behindertenhilfe

Interview mit Dr. Ralf Kümper, Lebenshilfe Tübingen und Mustafa Dedekeloglu, Duha e.V. Mannheim

Menschen mit Behinderung, Migrationshintergrund und Fluchterfahrung sind in unserer Gesellschaft oftmals mehrfach benachteiligt. Um ihre Teilhabechancen am Versorgungssystem der Behindertenhilfe zu erhöhen, müssen Angebote kultursensibel umgesetzt und die Interkulturelle Öffnung in der Behindertenhilfe weiterhin vorangetrieben werden. Nathalie Wollmann, Referentin für Migration, sprach mit Dr. Ralf Kümpe und Mustafa Dedekeloglu über das Thema Migration und Behinderung.

Welche Angebote bieten Sie im Bereich der Behindertenhilfe für Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung an?

Herr Dedekeloglu: Wir sind eine Migrantenselbstorganisation, die seit 2013 in diesem Bereich tätig ist. Wir bieten ambulante Hilfen an wie z. B. tagesstrukturierende Angebote, Einzel- und Gruppenbetreuungen, Sozial- und Mobilitätstraining und Schul- und Lernbegleitungen. Darüber hinaus setzen wir viele Projekte um und haben ein Elterncafé etabliert, in dem ein Austausch über wichtige Themen erfolgt.

Herr Dr. Kümper: Unsere Einrichtung hat mit Unterstützung durch den Landkreis einen eigenen Bereich zum Thema Flucht, Migration & Behinderung etabliert. Wir bieten Einzelfallarbeit, ehrenamtliche Tandembegleitungen, Familienaktivitäten und Selbsthilfegruppen an. Die aufsuchende Arbeit und der persönliche Kontakt zu Hilfesuchenden spielen bei uns eine wichtige Rolle. Darüber hinaus haben wir ein Mütterfrüh- stück etabliert, um den gegenseitigen Austausch zu stärken.

Wie würden Sie den generellen Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung zu den Angeboten der Behindertenhilfe beschreiben? Welche Barrieren sind vorhanden, die eine Inanspruchnahme erschweren?

Herr Dr. Kümper: Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Hilfesysteme in der Behindertenhilfe weniger in Anspruch genommen werden. Oftmals erschweren sprachliche Barrieren und bürokratische Hürden den Zugang zu den Angeboten in der Behindertenhilfe. Hinzu kommen fehlende Informationen über die Leistungen und Angebote. Sprachkurse in einfacher Sprache fehlen – insbesondere im ländlichen Raum. Viele Menschen mit Behinderung fühlen sich oft nicht zugehörig und einsam. Mehrfache Benachteiligungen verschärfen diese Gefühle.

Herr Dedekeloglu: Wenn wir den generellen Zugang und die Barrieren betrachten, so sollte nach der ersten, zweiten und dritten Generation unterschieden werden. In der ersten und zweiten Generation sind oftmals sprachliche Barrieren und eine große Hemmschwelle vorhanden, Leistungen und Angebote in Anspruch zu nehmen. Gerade im türkischen Kulturkreis wird oftmals versucht, das Versorgungssystem über die eigene Familie aufrechtzuerhalten und abzudecken. Fremde Hilfen in Anspruch zu nehmen sind häufig mit Gefühlen wie Scham besetzt. Die dritte Generation ist zwar besser über die Hilfesysteme aufgeklärt, jedoch spielt auch hier die kultursensible Ausgestaltung der Angebote eine große Rolle. Sind die Angebote nicht kultursensibel ausgerichtet, so wird auch hier eine Inanspruchnahme erschwert.

Wie können aus Ihrer Sicht diese Barrieren überwunden werden?

Herr Dr. Kümper: Persönliche Ansprache und Vertrauensarbeit sind wichtige Komponenten, um Barrieren zu überwinden. Beratungs- und Aufklärungsarbeit ist notwendig, um einen Überblick über die Hilfsangebote zu geben und um sich auch über die individuellen Bedürfnisse zu informieren. An unseren Angeboten nehmen viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund teil. Diese erreichen wir über unsere Verbindungen zur Schule. Wir gehen persönlich auf Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung zu. Wenn wir eine neue Aktivität in unserer Einrichtung etablieren, dann nutzen wir unsere Netzwerke und Kooperationen und bieten an, Interessierte beispielsweise auch von zu Hause abzuholen. Wir achten auf eine kultursensible Ausrichtung der Angebote. Insbesondere der Einsatz von Tandembegleitungen hat sich bewährt, Sprachbarrieren zu überwinden und Vertrauen zu erzeugen. Unser eigener Bereich Migration soll als Türöffner dienen, um die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung in die Regelstrukturen der Behindertenhilfe zu erleichtern und Barrieren zu erkennen und abzubauen. Wir sind sehr froh darüber mit Unterstützung des Landkreises Tübingen einen solchen Beitrag leisten zu können.

Herr Dedekeloglu: Die Angebote in der Behindertenhilfe müssen individuell angepasst werden. Interne Ressourcen sind notwendig, um den Bedarf von Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung abzudecken. Unsere Organisation arbeitet seit zehn Jahren im Bereich der Behindertenhilfe. Wir befinden uns in einem kontinuierlichen Aufbauprozess, um Rahmenbedingungen und Strukturen zur Durchbrechung dieser Barrieren zu schaffen. Hierfür werden aber auch finanzielle Ressourcen benötigt. Mit der „kulturellen Sprache sprechen“– damit wird der Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung erleichtert. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir als Migrantenselbstorganisation Angebote im Bereich der Behindertenhilfe etablieren. Aufgrund des kulturellen Hintergrundes unserer Organisation gestaltet sich der Zugang zur Zielgruppe in vie- len Fällen einfacher, da wir einen Vertrauensvorschuss erhal- ten. Leichte Sprache und mehrsprachige Informationen sind wichtig, um eine gute Aufklärungsarbeit zu leisten. Leider gibt es noch viel Handlungsbedarf, wenn es um die Interkulturelle Öffnung der Regelstrukturen in der Behindertenhilfe geht. Die Zusammenarbeit und Beteiligung von Migrantenselbstorganisationen an den Regelstrukturen der Behindertenhilfe sind sehr wichtig, um Barrieren zu durchbrechen.

Menschen mit Behinderung und Fluchterfahrung gehören zu den besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Welche Schwierigkeiten sind vorhanden, wenn diese auf die aktuelle Versorgungslandschaft der Behindertenhilfe treffen?

Herr Dedekeloglu: Derzeit haben wir in unserer Einrichtung kaum Zugang zu Menschen mit Behinderung und Fluchtgeschichte. Selbstverständlich möchten wir gerne diese auch an unseren Angeboten partizipieren lassen. Die größte Herausforderung besteht jedoch in dem Zugang zu dieser Zielgruppe.

Herr Dr. Kümper: Um die Unterstützung von Geflüchteten mit Behinderung adäquat zu gewährleisten, müsste in einem ersten Schritt eine systematische Identifizierung erfolgen. Es gibt leider keine Datenerhebung über Geflüchtete mit Behinderungen, die sich unter den neu ankommenden Schutzsuchenden befinden. Deshalb ist es umso wichtiger, in den Erstaufnahmeeinrichtungen und in den Netzwerken der Migrationsarbeit über Leistungen und Angebote zu in- formieren. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, die Leistungsansprüche in den einzelnen Fällen zu klären. Aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen in Kombination mit verschiedenen Aufenthaltstitel werden zur Klärung viele zeitliche Ressourcen benötigt. Dies erschwert im Einzelfall eine schnelle Vermittlung von Hilfen im Notfall.

Dr. Ralf Kümper

Lebenshilfe Tübingen

Mustafa Dedekeloglu

Duha e.V. Mannheim

 

Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022

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