Für deren Erhalt und Weiterentwicklung braucht es Bürger*innen, die um deren Wert wissen
75 Jahre Demokratie, 75 Jahre Freiheit, 75 Jahre Frieden – in der deutschen Geschichte ist dies eine geradezu unvergleichliche Bilanz, die in diesem Jahr anlässlich der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 gezogen werden konnte. Landauf landab wurde bei Festen und in Feierstunden die Verfassung gewürdigt, die seit einem dreiviertel Jahrhundert die Fundamente für die rechtliche Grundordnung unseres Gemeinwesens legt. Keine Verfassung war in Deutschland länger in Kraft als das Grundgesetz. Das Jubiläum steht für eine Erfolgsgeschichte.
Und doch wollte bei den Feiern kein unbeschwerter Jubel aufkommen. Vielmehr drängte sich die viel beschworene Krise der liberalen Demokratie immer wieder dazwischen wie ein ungebetener Partygast, der die Stimmung verdirbt. Im Jubiläumsmonat Mai standen die Europawahlen noch bevor, zeitgleich mit den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg und sieben weiteren Bundesländern auf den 9. Juni terminiert – wie sich dann zeigte, hier wie dort mit dem Ergebnis einer erstarkenden radikalen, teils extremen Rechten.
Demokratie ist kostbar und fragil
In diesem Wissen wurde das deutsche Verfassungsjubiläum mitten im weltweiten Superwahljahr 2024 begangen. Die Tonlage war nüchtern, das Bedrohungsgefühl allgegenwärtig, und selten fehlte der Hinweis auf die beeindruckende Weitsicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes: Ihr normatives Werk war von Anfang an auf die Auseinandersetzung mit politischem Extremismus vorbereitet. Es ist, stellt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth heute fest, als „Antwort auf Nazi-Diktatur und Zweiten Weltkrieg, ein in 146 Verfassungsartikel gegossenes ‚Nie wieder‘, zu verstehen“.
Der 75. Jahrestag, zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland, bot reichlich Anlass für ebenso kritische wie grundsätzliche Gespräche über Demokratie. So viel, so intensiv und auch so substanziell ist in Deutschland vermutlich noch nie über die geltende politische Ordnung gesprochen worden. Im öffentlichen Diskurs wurden Fragen verhandelt wie: Was macht den Wesenskern des Grundgesetzes aus – Menschenwürde, Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeit? Welche Lernprozesse, Kämpfe und Traditionen haben den Text geprägt? Wie gestaltet sich seine Wehrhaftigkeit? Auch von Verfassungspatriotismus war viel die Rede.
Grundgesetz eine stabile, belastbare Basis für unser Gemeinwesen
Weithin deutlich wurde in diesen Jubiläumswochen, in denen sich zeitgleich Berichte über tätliche Angriffe auf Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer häuften: Das Grundgesetz ist eine stabile und belastbare Basis für unser Gemeinwesen. Aber es ist nur so stabil und so belastbar, wie wir alle es zulassen. Für Erhalt und Weiterentwicklung der liberalen Demokratie braucht es Bürgerinnen und Bürger, die um deren Wert wissen. Dies setzt demokratische Haltung voraus. Dies erfordert die Bereitschaft, freiwillig Verantwortung zu übernehmen. Und es braucht, wie sich mehr denn je zeigt, auch die Bereitschaft der ganzen Gesellschaft, diejenigen zu schützen und zu verteidigen, die bereit sind zum Engagement.
Demokratie fällt nicht einfach vom Himmel
Die Geburtstagsreden haben Grundsatzerkenntnisse vermittelt. Nun aber kommt es darauf an, sie auch über das Jubiläum hinaus konsequent mit Leben zu erfüllen. Denn Demokratie fällt nicht einfach vom Himmel. Sie muss in demokratischen Aushandlungsprozessen immer wieder aufs Neue erarbeitet werden. Und vor allem muss sie von den Menschen immer wieder gelernt, begriffen und verinnerlicht werden – von klein auf und bis ins hohe Alter hinein. Ohne engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich faktenbasiert und realitätsbewusst, kontrovers und konstruktiv mit politischen Entscheidungen auseinandersetzen, ist kein demokratischer Staat zu machen.
Zu diesem anspruchsvollen Projekt leistet politische Bildung einen wichtigen Beitrag. Sie stärkt Menschen in ihrer Analyse-, Urteils- und Handlungsfähigkeit. Sie fördert notwendige demokratische Kompetenzen wie Kritik- und Konfliktfähigkeit. Sie unterstützt mündige Bürgerinnen und Bürger in ihrer Meinungsbildung, indem sie evidenzbasierte Informationen bereitstellt. Und sie eröffnet Foren für Austausch und Begegnung – verbunden mit der notwendigen Kontroversität, aber auch mit den unvermeidlichen Spannungen und Widersprüchen unserer von Komplexität geprägten Zeit.
Diesen Zielen hat sich die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) verschrieben. Sie möchte mit ihren Angeboten der politischen Bildung ermöglichen, dass sich die Menschen in unserem Bundesland von klein auf mit Demokratie befassen. Bereits Grundschulkinder können ihre Bedeutung erfahren, indem sie gemeinsame Anliegen – auf altersgerechte Weise begleitet – aushandeln. Solche Lernprozesse setzen sich fort in den weiterführenden Schulen, mit dem Wahlrecht ab 16 Jahren, in Ausbildung und Studium und schließlich im Erwachsenenleben. Im Kern geht es immer wieder darum, eigene Belange in Bezug zu setzen zu den Belangen anderer. Diesem Ziel dient auch die von der LpB geförderte Vernetzung der pluralen Träger der politischen Bildung im Land.
Nachfrage nach politischer Bildung ist groß
Das Superwahl- und Jubiläumsjahr 2024 zeigt: Die Nachfrage nach politischer Bildung ist groß, schularten- und auch altersübergreifend. Die Menschen wollen aber nicht nur mit Informationen bedient werden, sondern auch eigene Erfahrungen sammeln können. Dazu braucht es aktivierende Angebote, die zur kritischen Reflexion anregen. Dazu braucht es zudem Anstöße, sich vor Ort, etwa in der kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligung, zu engagieren. Wer sich früh im sozialen Nahraum einbringt, wird dies womöglich auch im Erwachsenenalter tun.
Was braucht es über solche Angebote der politischen Bildung hinaus? Es braucht gute Politik. Und es braucht nicht zuletzt eine politische Kultur, die politische Bildung nicht auf Extremismusprävention reduziert. Politische Bildung zielt auf den ganzen Menschen. Sie ist ein Angebot zur Persönlichkeitsentwicklung, zur demokratischen Beziehungsfähigkeit in der liberalen Demokratie – und für alle offen. Denn in einer Gesellschaft der mündigen Bürgerinnen und Bürger sind alle gefordert, die liberale Demokratie zu gestalten und zu verteidigen. Darauf, dass es genug andere Menschen gibt, die sich für die Demokratie einsetzen, sollte sich niemand verlassen.
Sibylle Thelen
Direktorin
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
Beitrag aus ParitätInform 3/2024