Große Chancen in der Wohngemeinschaft auf Zeit
Eltern mit Behinderung brauchen manchmal Unterstützung, um ihre Kinder zu versorgen. Ein gutes Beispiel aus der Praxis ist die Lebenshilfe Aalen: Sie hat eine Mutter-Kind-Wohngruppe für Mütter mit geistiger Einschränkung.
„Flammkuchen und Spaghetti!“ Yvonne erzählt lachend, was die Kinder gerne essen. Kochen ist zur Leidenschaft der jungen Frau geworden. Welches Rezept heute zaubern? Es ist Mittagszeit. Noch ist ihre Valentina in der Kita. Aber bald wird sie die Dreijährige abholen. „Was Kinder gerne essen“ heißt das Kochbuch, das sie nun mit Carolin Hammele durchblättert. Die Sozialpädagogin arbeitet bei der Lebenshilfe Aalen, leitet seit sechs Jahren eine Mutter-Kind-Wohngruppe für Mütter mit geistiger Einschränkung – im Tandem mit Larissa Preuß. Alle Plätze bietet das Haus der Lebenshilfe im Stadtteil Unterkochen: Vier Mütter, 22 bis 29 Jahre alt, wohnen dort mit ihren Kindern.
Zwei davon sitzen im gemütlichen Wohnraum am langen Tisch, eine isst mit ihrer Kleinen, eine andere macht Hausauf- gaben mit ihrem Sohn. „Wir versuchen schon gemeinsam zu essen, klappt nicht immer“, meint Yvonne. Sie beschreibt den Tagesablauf während der Woche. „6:40 Uhr aufstehen, Frühstück, Zähne putzen, Bus, Kind in die Kita bringen. Danach unsere Dienste, Bad, Flur, Wohnzimmer, aufräumen, putzen, ab 12:30 Uhr wird gekocht, 15:00 Uhr Kind abholen. Wir gehen dann mal zum Spielplatz, treffen Freundinnen, machen Puzzles, spielen mit Lego oder Puppen. Um 18:00 Uhr gibt es Abendessen, um 19:00 Uhr gehen die Kinder schlafen. Am Wochenende stehen wir erst um neun Uhr auf.“ Fehlt ihr das abends Fortgehen, wie das andere Anfang Zwanzig tun? „Nein. Mein Kind steht im Mittelpunkt. Ich will eine gute Mutter sein“, sagt Yvonne.
Sich verantwortungsbewusst kümmern
Als „WG auf Zeit“ bezeichnet Carolin Hammele den Hort für die Kleinfamilien. Dort sollen die Mütter mit kognitiven Einschränkungen befähigt werden, künftig selbstständig mit ihren Kindern zu leben. Sie können bleiben, solange es nötig sei, sagt sie. „Durchschnittlich sind sie zwei Jahre bei uns.“ Die Mütter trügen die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, betont sie. Unterstützt würden sie bei alltäglichen Dingen der Elternschaft – Baby wickeln, waschen, füttern, Essen zubereiten, Haushalt, Kinderzimmer. Begleitet werden sie bei Bedarf bei Kinderarztbesuchen, Ämtergängen und mehr. „Klar, schaut man auch nach dem Kind, wenn die Mamas einen Termin haben, etwa eine Therapie“, so Hammele. „Aber wir wollen, dass sie möglichst alles selbst organisieren, sich verantwortungsbewusst kümmern. Wir nehmen ihnen nichts ab, sind aber an ihrer Seite und helfen, Dinge selbst zu tun.“
Dafür sorgen neben den Hausleiterinnen drei pädagogische Fachkräfte für die Nachtbereitschaft. Insgesamt elf Mitarbeitende sind im Team, das zum Bereich Begleitete Elternschaft und Erziehungshilfen der Aalener Lebenshilfe gehört. Steffen Sponer-Dittrich leitet das Fachgebiet. „Die Mütter, die zu uns kommen, müssen volljährig sein und kommen nicht gleich nach der Geburt zu uns“, erläutert er. „Jeder habe nach dem Grundgesetz Artikel sechs das Recht auf Kind und Familie. Natürlich gibt es das Bedürfnis nach Nähe und Familie. Und der Kinderschutz steht ganz vorn.“
Enge Zusammenarbeit mit den Ämtern
Die Eltern und Großeltern der Mütter seien oft keine Hilfe, die Verhältnisse meist schwierig, das Jugendamt im Boot. Das werde nicht selten als Feind erlebt, das womöglich das Kind wegnimmt und in eine Pflegefamilie gibt „Wir arbeiten eng mit den Ämtern zusammen“, so Sponer-Dittrich. „Da geht es um gemeinsame Hilfebedarfsplanung, die halbjährlich überprüft, je nach Situation verfeinert und angepasst wird.“ Er betont, dass die Mütter in der Wohngruppe die Möglichkeit bekommen, irgendwann ein selbstständiges Leben führen zu können mit ihren Kindern – und unabhängig zu sein von negativen Strukturen. „Aber sie müssen das selbst wollen. Sie kommen freiwillig – und verzichten dafür auf Manches, auf Familie oder auch auf die Kindesväter.“ Kein einfaches Feld, da manche Männer die kognitive Einschränkung der Frauen ausnutzten. „Unser Haus ist eine große Chance für Mütter und Kinder!“
Die hat Yvonne mit ihrer Schwester Jasmin ergriffen. Aus Bayern sind die Zwillinge, die gleichzeitig schwanger waren, vor einem Jahr mit ihren Mädchen in das Haus gezogen. „Nun können unsere Kinder spielen, sind in einem Zimmer“, freut sich Yvonne.
Seit der Pandemie kommen Anfragen von weit über die Grenzen des Bundeslandes hinaus, so Steffen Sponer-Dittrich. Hat man doch in Aalen viel Erfahrung mit solchen Wohnformen. Bereits 2008, früher als andere, hat sich die Lebenshilfe auf den Weg gemacht. Mit dem überarbeiteten Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für Kinder- und Jugendhilfe für „alleinerziehende Mütter oder Väter und deren Kindern unter sechs“ sei es dann 2015 richtig losgegangen. Seit dem 1. Januar 2020 ist die Unterstützung von Müttern und Vätern mit Behinderung ausdrücklich als mögliche Assistenzleistung verankert im SGB IX, wo es um Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland geht. Sponer-Dittrich beschreibt die Unterschiede von Elternassistenz und begleiteter Elternschaft in der Praxis. Erstere gilt überwiegend für Familien mit Eltern, die eine Körperbehinderung haben und Hilfe bei der Betreuung ihres Kindes brauchen. Begleitete Elternschaft meint Familien, wo Eltern mit einer geistigen Behinderung Unterstützung brauchen, um die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen und diesen nachzukommen.
Liebevoll gestaltete Zimmer – hell und gemütlich
In Aalen führt nun Carolin Hammele durch das Haus, das licht, gemütlich wie praktisch renoviert wurde. Sind die Kinder noch klein, leben sie mit ihren Müttern in einem Raum. Ältere Kinder, die schon zur Schule gehen, haben ein eigenes Zimmer. „Damit sie einen eigenen Bereich haben, auch in Ruhe lernen können“, so Hammele, die Tür zu einem solchen öffnend. Liebevoll haben die Mütter alles dekoriert, mit Fotos, Kissen und Objekten Wänden und – den zur Verfügung gestellten – Möbeln Persönlichkeit verliehen. Yvonne „lebt gerne hier“, sagt sie, bevor sie sich zur Kita aufmacht. Aber sie hat auch schon begonnen, sich auf das Leben danach vorzubereiten. „Ich will in einem Kindergarten oder einer Kita arbeiten“, sagt sie. Kontakte hat sie längst und schon assistiert. „Mit Carolin habe ich auch angefangen zu üben, wie man eine Bewerbung schreibt.“
Autorin: Petra Mostbacher-Dix
Kontakt
Steffen Sponer-Dittrich
Bereichsleitung Begleitete Elternschaft und Erziehungshilfen
Beitrag aus PARITÄTinform 1/2023