Michaela Schadeck, Geschäftsführerin der Individualhilfe Ambulanter Dienst gGmbH Heidelberg, kam mit 24 Jahren nach Heidelberg. Aus einem kleinen bayrischen Dorf ohne jegliche Infrastruktur für Rollstuhlfahrer kommend, empfand sie Heidelberg Anfang der 90er-Jahre als „Paradies der Barrierefreiheit“. „Hier gab es einen Linienbus mit Hebebühne für meinen elektrischen Rollstuhl und öffentliche Rolli-Toiletten“ – auch wenn es nur zwei öffentliche Toiletten über das ganze Stadtgebiet waren und genau eine Buslinie, bei der immerhin jeder zweite Bus eine Hebebühne hatte.
Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. So gut wie alle Buslinien in Heidelberg sind mit Rampen ausgestattet und auch der Nahverkehr auf den Schienen ist auf dem Wege dahin. Aber noch nicht alle Haltestellen wurden entsprechend angehoben. Gerade in ihrem Stadtteil ist noch keine einzige Haltestelle baulich angepasst, so dass ein Einstieg in die Straßenbahn nur mit ausgeklappter Rampe möglich ist. Das sei eigentlich kein Problem und klappe wunderbar, allerdings dürften die Fahrer die Rampe gar nicht ausklappen, weil es steiler als vorgegeben und damit zu gefährlich sei. Solange es keine bauliche Lösung gibt, ist sie froh, dass die meisten Fahrer sie trotzdem über die Rampe aussteigen lassen und sie diese Barriere so überwinden kann.
Orte der Zusammenkunft
Wesentlich für das Wohlfühlen in einer Stadt ist für Michaela Schadeck das Vorhandensein zugänglicher Rollstuhl-Toiletten. Ob es öffentliche WC-Häuschen, „mobile Toilette für alle“ oder Rolli-Toiletten in öffentlichen Gebäuden oder der Gastronomie sind, spielt für sie dabei keine Rolle, solange sie über einen Stadtplan (analog oder besser noch digital) sichtbar gemacht werden. In Heidelberg gibt es hierfür den Stadtführer (https://heidelberg.huerdenlos.de/).
Vor allem kulturelle Einrichtungen wie Theater, Kino und Veranstaltungsräumlichkeiten sollten darin als barrierefrei gekennzeichnet sein. Wo kann Teilhabe und gemeinsames Erleben denn besser funktionieren als an solchen öffentlichen Orten?
Weshalb sollte eine Gesellschaft Orte der Zusammenkunft entstehen lassen, an denen per se sofort ein Teil der Gesellschaft ausgeklammert wird? Das ist ihres Erachtens nicht die Idee kultureller Stätten. Dass diese Ausgrenzung aber in der Realität oft passiert, sei nicht mal böser Absicht geschuldet, sondern eher einer Gedankenlosigkeit oder mangelnden Erfahrungswissens. „Was man selbst nicht zwingend braucht, wird nicht unbedingt wahrgenommen: Ein Fußgänger nimmt oft gar nicht wahr, ob er zu ebener Erde in ein Restaurant hineingekommen ist oder ob er dazu zwei Stufen überwunden hat. Aus diesem Grund ist es eben wichtig, dass sich Menschen hierzu immer wieder austauschen.“
Sprachrohr für Minderheiten
Mobilitätseingeschränkte Menschen gibt es zwar viele, sie sind aber trotzdem eine Minderheit in der Gesellschaft. Eine von vielen. Deshalb müsse auch jeder Minderheit ein entsprechendes Sprachrohr gegeben werden. In Heidelberg gibt es dafür bereits seit über 15 Jahren den Beirat von Menschen mit Behinderung. Er ist ein beratendes Gremium des Gemeinderats. Seine Aufgabe ist es, für die Bedürfnisse dieser Menschen einzustehen.
Wenn unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden sollen, kann es – so ist ihre Erfahrung – manchmal nur ein Kompromiss sein: „Natürlich gefällt es mir auch nicht, wenn ich in einem Theater mit meinem Rolli nur in dem dafür abgegrenzten Bereich sitzen darf und nicht neben meinen Freunden, die mich begleiten. Aber ich komme stufenlos an meinen Platz, die Türen gehen automatisch auf und es gibt eine Rolli-Toilette. All die Dinge, die ich in meinem bayrischen Dorf heute noch vermisse.“
Es gibt noch viel zu tun
Michaela Schadeck sieht, dass in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel erreicht wurde. „Dass es noch viel zu tun gibt, ist auch klar.“ Ihr sind Menschen bekannt, die aufgrund einer fortschreitenden Behinderung ihre Wohnung nicht mehr verlassen können. Es werden dringend viel mehr barrierefreie Wohnungen gebraucht. „Mir ist bewusst, wie gut ich es mit meiner Wohnung im Erdgeschoss habe. In Begleitung meiner Assistenten der Individualhilfe verlasse ich mehrmals täglich das Haus, ohne mir überhaupt Gedanken darüber zu machen – in die Arbeit, Einkaufen, Freunde besuchen usw.“ Für viele Menschen ist dies jedoch nicht möglich – aufgrund vieler baulicher Barrieren, die sie immer noch an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindern.
Für Veranstaltungen wünscht sie sich neben barrierefrei zugänglichen Räumen auch die Möglichkeit einer digitalen Teilnahme: „Wenn mit digitalen Eintrittskarten Theaterveranstaltungen, Konzerte und Vorträge als Hybridveranstaltung übertragen werden könnten, wäre auch für viele Menschen eine kulturelle Teilhabe möglich.“
Der Paritätische fordert
- Barrierefreiheit ist bei weitem kein „nice to have“. Sie ist ein verbrieftes Recht, das sich unter anderem aus Artikel 9 der UN-Behindertenrechts-konvention (UN-BRK) ergibt.
- Barrierefreiheit ist viel mehr als die Rampe vor der Tür, der barrierefreie Fahrstuhl, die barrierefreie Toilette oder das Blindenleitsystem. Barriere-freiheit spielt in allen Bereichen des Lebens eine Rolle. Barrierefreiheit heißt, dass Gebäude und öffentliche Plätze, Arztpraxen, Apotheken, Arbeitsstätten und Wohnungen, Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen und Freizeitangebote so gestaltet werden, dass sie für alle ohne fremde Hilfe zugänglich sind. Wo Orte, Räume oder Kommunikationsmittel nicht barrierefrei sind, bleibt Teilhabe am kulturellen und politischen Leben, an der Arbeitswelt und in der Freizeit verwehrt.
- Barrierefreiheit ist die zentrale Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft.
Beitrag aus ParitätInform 01/2024