Armut ist Stress

Fachinformation - geschrieben am 17.01.2025 - 10:49
Frau mit Kind auf dem Arm hält eine Hand prüfend über den Heizkörper

Gesundheitliche Ungleichheit verringern – durch Prävention und Gesundheitsförderung

Arme Menschen leben in Deutschland im Durchschnitt etliche Jahre weniger als wohlhabende Menschen. Da sie außerdem früher, häufiger und schwerer erkranken, verbringen sie einen größeren Teil ihrer ohnehin kürzeren Lebenszeit mit krankheitsbedingten Einschränkungen (siehe Schaubild S. 9). Diese gewaltige Ungerechtigkeit wird auch dadurch nicht kleiner, dass sie schon sehr lange existiert und wirkt.

Diese sozial bedingten Unterschiede in Gesundheit und Lebenserwartung sind in Deutschland dank der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nur zu einem sehr geringen Teil die Folge schlechterer medizinischer Versorgung armer Menschen. Vielmehr ergeben sie sich daraus, dass Menschen aus sozial beengten Lebenslagen oft über ihr ganzes Leben hinweg höhere Gesundheitsbelastungen zu tragen haben, und zwar sowohl physisch (vor allem Wohnen, Mobilität, Lärm, Luft, Arbeit etc.), sowie psychisch (z. B. Demütigungen, Frustrationen, Unter-/Überforderung,) als auch sozial (z. B. Ausgrenzung, Teilhabeverweigerung, Fremdkontrolle, Diskriminierung, Mobbing). Armut ist Stress, Dauerstress.

Ärmere Menschen haben im Durchschnitt auch ein riskanteres Gesundheitsverhalten, vor allem Tabak, Ernährung, Bewegung und Stressverarbeitung. Entgegen weit verbreiteten Vorurteilen erklären diese Unterschiede aber nur weniger als die Hälfte der Unterschiede in Lebenserwartung und Gesundheit. Zudem werden viele der gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen durch die beengte Lebenslage stark begünstigt und oft geradezu oktroyiert. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass den seit Jahrzehnten laufenden Anstrengungen, diesem Verhalten durch Aufklärung, Kurse, Erziehung und Sanktionen zu begegnen, kaum Erfolg beschieden ist. Erfolgversprechend sind vor allem Veränderungen der Lebenslage, um so die Anreize für riskantes Verhalten zu verringern.

Stärkung und Mehrung der Gesundheitsressourcen

Nun hängen Gesundheit und Lebenserwartung (neben dem natürlichen Alterungsprozess) nicht nur vom Ausmaß der Belastungen ab, sondern auch von den Gesundheitsressourcen, mit denen wir Menschen Gesundheitsbelastungen auffangen, kompensieren und verarbeiten können. Die Kräftigung und Vermehrung dieser Ressourcen ist das Arbeitsfeld der Gesundheitsförderung, die seit der Ottawa-Charta der WHO (1986) neben der Belastungssenkung als zweiter Strang der Krankheitsverhütung (Primärprävention) Eingang in Programme, Wissenschaft und Praxis gefunden hat. Und auch hier sind ärmere Menschen schlechter dran: sie verfügen im Durchschnitt nicht nur über weniger physische Ressourcen (vor allem ein guter Trainingsstand des Körpers), sondern haben auch weniger Chancen für die Entwicklung ihrer psychosozialen Ressourcen, die ihnen Resilienz gegen Zumutungen und Belastungen ihres Lebens bieten.

Im Ergebnis der Forschungen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen kennen wir den Set von Gesundheitsressourcen mittlerweile ganz gut. Da sind zunächst die Ressourcen, an deren Verfügbarkeit ärmere Menschen zunächst mal nicht allzu viel ändern können: Geld ist in der Marktwirtschaft der Generalschlüssel zur Teilhabe – nicht nur im Konsum. Gleichermaßen wichtig ist die Bildung. Daneben aber gibt es die subjektiven Gesundheitsressourcen. Sie können auch ohne Verbesserung der sozialen Lage gestärkt und gesteigert werden und wirken sich signifikant messbar auf Lebenserwartung und Gesundheit aus. Vor allem vier Gesundheitsressourcen gelangen da ins Blickfeld (‚the big four‘):

› ein stabiles Selbstwertgefühl („ich bin wertvoll; es ist gut, dass es mich gibt“),

› ein starkes Gefühl der Selbstwirksamkeit („ich kann, alleine oder zusammen mit anderen, etwas bewirken, ich bin nicht (nur) Opfer“),

› die Verankerung in hilfreichen, auf Gegenseitigkeit funktionierenden sozialen Netzen („ich habe Menschen, die mich unterstützen; aber auch: ich werde gebraucht“) sowie

› ein Bewusstsein davon, was für mich als Individuum wirklich wichtig ist im Leben („Sinn erleben“).

Prävention in Lebenswelten

Auch diese Kräfte erlernt man nicht durch Unterweisung und Kurse, sondern durch praktisches Tun und Erfahrung. Hier setzt die Prävention in Lebenswelten an: Die Nutzer*innen‚ „durchforsten“ ihre Lebenswelt (‚Setting‘) mit der gemeinsamen Fragestellung, was – physisch und sozial – verändert werden sollte, damit ihr Setting angenehmer und schöner wird und – offene und verborgene – Anreize zu gesundheitlich riskantem Verhalten gemindert werden. Der absolut entscheidende Erfolgsfaktor solcher Projekte ist die direkte Partizipation der Teilnehmenden auf allen Stufen, d. h. der Problemdiagnose, der Entscheidung, was zu tun ist, der Veränderungen selbst und der Bewertung der Ergebnisse. Direkte Partizipation ist die Schlüsselgröße der Gesundheitsförderung. Diese Art von Prävention wurde in der Betrieblichen Gesundheitsförderung entwickelt („Gesundheitszirkel“): der Krankenstand sinkt in der Folge für mehrere Jahre um bis zu 30 Prozent, Arbeitsfreude und Produktivität nehmen zu. Das Grundmuster wurde auf andere Lebenswelten wie KiTa, Schule, Freizeiteinrichtungen, Altenheime, Pflegestationen, Stadtteile etc. übertragen und führt dort zu ebensolchen Erfolgen: das Setting ist im Ergebnis angenehmer und gesundheitsförderlicher: Selbstwertgefühl, Selbstwirk-samkeitsgefühl, Vernetzung und Sinnerleben nehmen zu, die Erkrankungen gehen zurück. Deshalb sind auch die Krankenkassen der GKV seit dem Präventionsgesetz (2015) verpflichtet, 40 Prozent ihrer Ausgaben für Prävention für solche Projekte zu verwenden.

Gesundheitsförderliche Gesamtpolitik

Auf diese Weise kann zumindest ein Teil der aus beengten Lebenslagen, aus Armut erwachsenen gesundheitlichen Benachteiligungen kompensiert werden, und das ist gut so. Aber trotz aller schönen Erfolge bleibt: Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten ist keine kausale Therapie. Wenn die armutsbedingten gesundheitlichen Benachteiligungen erst gar nicht entstehen sollen, muss die Armut selbst bekämpft werden. Dann führt kein Weg daran vorbei, direkt in die Einkommens- und Vermögensverteilung, in die Bildungs-, Familien-, Wohnungs- und Mobilitätspolitik einzugreifen und dort die Benachteiligungen zu beseitigen. Die WHO hat diesem Ansatz des schönen Nehmens ‚Health in all Policies‘ gegeben – zu Deutsch: Gesundheitsförderliche Gesamtpolitik.

 

Professor Dr. Rolf Rosenbrock

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. Berlin

Beitrag aus ParitätInform 4/2024

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