Aktueller Stand des Bundesteilhabegesetzes aus Betroffenensicht

Fachinformation - geschrieben am 03.02.2023 - 10:33
Rolli-Fahrer* reicht ein Schriftstück über einen Tisch an ein 3 Personen

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) ist die Dachorganisation der Zentren für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Schon damals wurde „Behinderung“ nicht aus einer medizinischen Perspektive als Defizit definiert, sondern als Menschenrechtsthema.

„Nichts über uns – nicht ohne uns“ – die Anfänge

1981 fand in Dortmund das sogenannte Krüppeltribunal statt mit etwa 400 Teilnehmer*innen. Zwei Tage lang haben die Kongressteilnehmer*innen Anklagen und Forderungen zu „Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat“ verlesen: Menschenunwürdige Heime, Behördenwillkür, Mobilitätsbarrieren, die Lebensbedingungen behinderter Frauen und Zustände in Werkstätten, Rehabilitationszentren und Psychiatrie.

Was hat sich seit 1981 tatsächlich verändert? Was ist geblieben? Und was muss passieren, damit behinderte Menschen endlich selbstbestimmt leben können und im Sinne des Mottos „Nichts über uns – ohne uns“ in allen Bereichen des Lebens partizipieren können?

Seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland in Kraft und damit geltendes Recht. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen prüft regelmäßig, ob die Vertragsstaaten die Konvention umsetzen.

Erste Ergebnisprüfungen 2015

Ergebnis der ersten Prüfung waren die „Abschließenden Bemerkungen“ vom 13. Mai 2015. Sie enthielten viele Kritikpunkte an der damaligen Rechtslage in Deutschland und Empfehlungen zur Umsetzung der Konvention durch Gesetzesänderungen, z. B.:

  • Die gesetzliche Definition von Behinderung in Deutschland passte nicht zu den Bestimmungen der Konvention.

  • Deutschland stellte nicht genügend Geld zur Verfügung, um ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen außerhalb von Einrichtungen zu ermöglichen.

  • Deutschland hatte keinen inklusiven Arbeitsmarkt.

  • Menschen mit Behinderungen mussten in zu hohem Umfang ihr persönliches Einkommen verwenden, um ihre behinderungsbedingten Bedarfe zu decken und selbstbestimmt leben zu können.

  • Deutschland stellte Menschen mit Behinderungen zu wenige soziale Dienstleistungen für Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe zur Verfügung.

Ist in Deutschland die Umsetzung der UN-BRK Ende des Jahres 2022 erreicht?

Ich muss, ich möchte das verneinen!

  • Ja, die Definition von Behinderung wurde angepasst.

  • Ja, Einkommens- und Vermögensgrenzen wurden angehoben.

  • Ja, es wird versucht, mit dem in Baden-Württemberg eingeführten Bedarfsermittlungsinstrument Baden-Württemberg (BEI_BW) den persönlichen Bedarf zu ermitteln

Auf Augenhöhe – so wird es betont. Ich und meine Klient*innen erleben das Gespräch für die Bedarfsermittlung nicht auf Augenhöhe.

Es sind zum Teil sehr erniedrigende Gespräche, wenn begründet werden muss, warum ich ins Kino gehen will, was ich brauche, um an die Uni zu kommen, wenn mein oft sehr intimer Bedarf geschildert werden muss, um gleichberechtigt am Leben teil zu haben.

Möglichkeiten, die für Menschen „mit ohne“ Behinderung selbstverständlich sind, wie spazieren gehen, beim Einkauf selbst zu bestimmen, was ich brauche oder wann ich ins Bett gehe und wann ich aufstehe.

Um gleichberechtigte Partizipation für alle Menschen tatsächlich zu verwirklichen, fehlt es auch an den Rahmenbedingungen: Fehlender barrierefreier bezahlbarer Wohnraum, fehlende Assistent*innen, fehlende Barrierefreiheit im ÖPNV, überlastetes Personal in den Einrichtungen der sogenannten Besonderen Wohnformen, fehlende Möglichkeiten der Freizeitgestaltung bis hin zu nicht besetzten Stellen in den Ämtern. Dazu kommen oftmals Unwissenheit bzw. fehlendes Fachwissen bei den Fallmanager*innen, Überlastung der Mitarbeiter*innen in der Betreuung und Pflege, in den Wohngruppen und vieles mehr.

Die Haltung der Mitarbeiter*innen in den Ämtern ist sehr oft nicht achtungsvoll den Menschen mit Behinderung gegenüber. Es fehlt nach wie vor an Möglichkeiten und Alternativen außerhalb von Werkstätten zu arbeiten. Hinzukommen fehlendes Wissen zu Budget für Arbeit und Ausbildung.

Die Schulen sind nach wie vor keine Schulen für alle, und wenn Eltern ihr Kind mit Behinderung nicht in die Sonderschule schicken wollen, müssen sie um die Assistenzleistungen für ihr Kind kämpfen.

Auch beim Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung hat sich nicht viel geändert. Fehlende oder nur auf dem Papier existierende Gewaltschutzkonzepte in den Einrichtungen, keine barrierefreien Frauenhäuser etc.

In der Corona-Pandemie hat sich deutlich gezeigt, dass die Menschen mit Behinderung in vielen Fällen noch mehr von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausgeschlossen sind, u.a. wegen verringerter Kontaktmöglichkeiten, fehlender Online-Zugänge und der entsprechenden Technik wie z. B. dem Wissen zur Anwendung.

Noch weit vom Ziel entfernt

Es stellt sich für mich auch die grundsätzliche Frage, wie gleichberechtigte Teilhabe gestaltet werden kann und dann aussieht. So wie jede*r Mensch verschieden ist, so sind die Menschen mit Behinderung vielleicht noch verschiedener? Wie es eine junge Klientin mal formulierte, „was ist denn schon normal?“ Das Ziel des Bundesteilhabegesetzes  - individuelle, bedarfsgerechte Unterstützungsleistungen und Assistenz für Menschen mit Behinderung, so dass alle Menschen gleichberechtigt in allen Lebensbereichen partizipieren können – ist noch weit entfernt. Ich wähle bewusst den Begriff Partizipation, da dieser über Teilhabe weit hinaus geht.

Britta Schade
  • ist Betroffenenvertreterin und Mitglied im Aufsichtsrat des Paritätischen Baden- Württemberg
  • arbeitet als Psychologin in einer EUTB-Beratungsstelle und im Zentrum selbstbestimmt Leben
  • lebt seit nun 60 Jahren mit einem von Contergan geformten Körper, ist Mutter und Großmutter.
 
Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022

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