Grußwort Aufsichtsratsvorsitzender Holger Wilms

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin Aras,

sehr geehrter Herr Minister Lucha,

sehr geehrte Landesbeauftragte Fischer,

sehr geehrte Abgeordnete der Landtagsfraktionen,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der anderen Fach- und Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege,

liebe Frau Dürig, lieber Herr Hartmann,

liebe Paritäterinnen und Paritäter,

 

Ich freue mich, auch im Namen des gesamten Aufsichtsrates, einem ganz besonderen Verband – unserem Verband, dem Paritätischen Landesverband Baden-Württemberg  – heute zu diesem Geburtstag gratulieren zu dürfen.

Doch ich möchte diese Gelegenheit zunächst nutzen, um mit wenigen Worten das sich derzeit rasant verändernde Umfeld und die alles andere als leichten Bedingungen zu skizzieren, in denen die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen, unterstützt durch die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesgeschäftsstelle, derzeit tätig sind.

Ulrich Schneider hat es ja soeben schon angesprochen: Wir müssen die einschneidendsten Kürzungen der letzten 30 Jahre im sozialen Sektor befürchten. Kürzungen, die das Potential haben, das soziale Gefüge im Land fundmental zu erschüttern und damit wesentliche Errungenschaften von vor 75 Jahren zu gefährden.

Denn wenn wir 75 Jahre zurückblicken auf das Gründungsjahr unseres Paritätischen Landesverbandes, sind wir im Jahr 1948. Eine Zeit, in der nach den dunkelsten Jahren deutscher Geschichte im Parlamentarischen Rat in Bonn – im Rahmen der Beratungen zum Grundgesetz – der Aushandlungsprozess darüber lief, welche Werte künftig das Zusammenleben in unserem Land prägen sollen.

Es entstand etwas, das man einen von Solidarität geprägten Gesellschafts-Vertrag nennen kann: Der Sozialstaat wurde angestrebt!

Das Prinzip des Sozialstaates, aufbauend auf der sozialen Gerechtigkeit, bildet seither neben der Garantie auf Menschenwürde sowie der Anerkennung der Menschenrechte die zentrale Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und hat selbst im ökonomischen Prinzip der „Sozialen Marktwirtschaft“ Niederschlag gefunden.

Die Werte Menschenwürde, Menschenrechte und Sozialstaatlichkeit genießen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übrigens die Ewigkeitsgarantie. Das bedeutet, dass diese verankerten Grundrechte nicht durch das Parlament geändert oder aufgehoben werden können!

Aber das Grundgesetz blieb nicht etwa im Ungefähren, sondern ist durchaus in der Formulierung seiner Ziele sehr konkret – als das wären:

  • Die Sicherstellung der sozialen Gerechtigkeit
  • Die Absicherung von Risiken wie Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit
  • Die Förderung von Bildung und Chancengleichheit
  • Die Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität
  • Die Verhinderung von Armut und Ausgrenzung

Rückblickend lässt sich sagen, dass – bei aller Schwierigkeit und allen stets existierenden Verteilungskämpfen – diese Prinzipien in früheren Jahrzehnten wesentlich zur positiven Entwicklung unseres Landes beigetragen haben.

Aber wo stehen wir heute? Werden wir den Ansprüchen und Zielen, wie sie im Grundgesetz verankert sind, noch gerecht?

Zweifel sind angebracht!

Lenken wir den Blick auf die Pflege für alte und kranke Menschen: Hier erodiert derzeit eine ganze Versorgungslandschaft zu einem Zeitpunkt, in dem die Angebote der Leistungserbringer so dringend und so zahlreich gebraucht werden, wie noch nie: Während die Verantwortlichen in den Pflege-Einrichtungen und Diensten existentielle Bedrohungen auf sich zukommen sehen, blicken älter werdende Menschen in eine ungewisse Zukunft: Werde ich eine angemessene, würdevolle Versorgung bekommen, wenn ich sie brauche? Werde ich mir diese am Ende eines langen Arbeitslebens auch leisten können?

Ist das gerecht?

Lenken wir den Blick auf Kinder aus sozial schwachen Familien, oft mit nur einem alleinerziehenden Elternteil, meist Mütter: Bis heute prägt die soziale Herkunft die Bildungs-Chancen und Bildungswege.

Bis heute verhindern Armut und Geldmangel schon im Grundschulalter soziale Teilhabe. Die Zahl der betroffenen wächst. Und das, obwohl – bereinigt durch Corona-Effekte – in den vergangenen Jahren so viele Alleinerziehende berufstätig waren, wie noch nie.

Jeder, der oder die vor diesem Hintergrund die Debatte um die Kinder-Grundsicherung und die darin vorgebrachten Argumente in den letzten Wochen – Stichwort „Arbeitsanreize für Alleinerziehende“ – verfolgt hat und dann noch die Summen, über die gestritten wurde, ins Verhältnis zu anderen Haushaltsposten setzt, wird sich fragen:

Ist das gerecht?

Lenken wir den Blick auf die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung: Hier hat es zwar – ausgehend von der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung – den zunächst groß angelegten Wurf des Bundesteilhabegesetzes gegeben

Ein Wurf, der dann aber sowohl im Zuge konkreten Ausformulierung des neuen SGB-IX-Textes als auch später bei der Umsetzung vor Ort viel von seiner Kraft verloren hat: Der Rechtsanspruch auf individuelle Assistenz- und Unterstützungsleistungen zum Nachteilsausgleich im Sinne der ICF ist nicht für jeden erreichbar.

Und der kürzlich gegebene Bericht der UN zur Umsetzung der Inklusion in Deutschland spricht auch Bände. Ich habe tags drauf  in Berlin eine sehr treffende Bewertung dieses Berichtes gehört: „Das war eine schallende Ohrfeige“. Oder anders gesagt: So, wie es läuft, ist einfach nicht gerecht.

Lenken wir den Blick auf die Themenfelder Armut, Migration, Langzeit-Arbeitslosigkeit und Bürgergeld-Bezug, auf die immer häufiger notwendigen Frauenhäuser, aber auch auf Investitionen in Schulbauten oder sonstige kommunale Infrastruktur und Kulturarbeit:

Hier wird ein Aspekt der politischen und auch gesellschaftlichen Debatte deutlich, der mich besonders empört

Es wird so getan, als ob es quasi ein Naturgesetz gibt, dass die Gelder, die für die Erfüllung dieser Sozialstaats-Ziele zu Verfügung stehen, begrenzt und darum nur innerhalb der Sozialhaushalte ein Verteilungskampf über diese Gelder geführt werden müsste.

Das ist Unfug!

Es muss Schluss sein mit der reinen Umverteilung dieser Gelder nur auf dieser – horizontalen – Ebene. Es geht um eine vertikale Umverteilung zwischen oben und unten.

Es geht darum, endlich dem entgegenzuwirken, dass sich ganze Gruppen – wohlhabende Einzelpersonen genauso wie ertragskräftige Firmen mit der reinen Fokussierung auf Shareholder  – weiterhin aus ihrer solidarischen Verantwortung, wie sie im Grundgesetz angelegt ist, entziehen.

Es geht hierbei übrigens nicht nur um das Geld, das der Gesellschaft durch diese Egoismen vorenthalten wird. Es geht auch hier ganz zentral um das Erleben von Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit.

Und ich muss sagen, dass ich Sorge habe, wie dieses weit verbreitete Erleben von Ungerechtigkeit künftig das gesellschaftliche Klima und die politische Kultur belasten wird. Aus meiner Tätigkeit als Konfliktklärer und Mediator weiß ich, wie sehr erlebte und empfundene Ungerechtigkeit das soziale Miteinander belasten und sogar zu scheinbar irrationalen Verhaltensweisen, Protest-Handlungen, Fundamental-Opposition, Blockaden und Kommunikations-Abbrüchen führen kann.

In Teilen mag dieses nachhaltig gestörte Gerechtigkeits-Empfinden auch eine Erklärung für den Zulauf von Parteien ganz rechts außen sein.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle zwei persönliche Bemerkungen in Richtung derer, die denken, dass ein Kreuzchen dort – insbesondere bei dieser Pseudo-Alternative - eine legitime Form sei, dem eigenen Protest Ausdruck zu verleihen:

Schauen Sie genau hin, und Sie werden sehen, dass diese Parteien nichts, aber auch gar nichts Substantielles oder Konstruktives zu bieten haben.

Vor allem aber sind diese Gruppierungen im Kern nationalistisch, antidemokratisch, rassistisch, antifeministisch.

Sie verachten die zentralen Werte des Grundgesetzes und erkennen die Unantastbarkeit der Würde und die Gültigkeit der Menschenrechte für jedes einzelne Individuum auf dieser Erde nicht an.

Und sind deshalb für Paritäterinnen und Paritäter unwählbar!

Liebe Paritäterinnen und Paritäter, verehrte Gäste,

bitte sehen Sie mir nach, dass ich bis jetzt trotz des festlichen Anlasses so viele kritische Worte über eine vielleicht eher düster anmutende Zustands-Beschreibung verloren habe.

Aber abgesehen davon, dass man manche Missstände und Sachverhalte nicht oft genug benennen kann (und ich hätte noch viel mehr Beispiele bringen können) so war es mir auch ein Anliegen zu skizzieren, in welcher Gesellschaft und in welcher Zeit die Mitglieder des  Paritätischen Baden-Württemberg tätig sind und – im Rahmen des Möglichen und Machbaren – welche Wirkmacht sie entfalten.

Denn trotz aller alltäglichen und strukturellen Schwierigkeiten, mit denen es umzugehen und die es anzusprechen und abzustellen gilt, so wird doch von unseren Mitgliedern und unsere Hauptamtlichen tagein, tagaus in Baden und Württemberg auf so vielen Ebenen und in so vielen Bereichen eine herausragende Arbeit geleistet, tragen Paritätische Organisationen zu einer vielfältigen, offenen, bunten, inklusiven, queeren und solidarischen Gesellschaft bei.

Kurz: Paritäterinnen und Paritäter sind die Motoren einer gesellschaftlichen Entwicklung – hin zu den Zielen, die vor 75 Jahren formuliert wurden und die bis auch heute die Ziele und Werte des Paritätischen Landesverbandes Baden-Württemberg prägen.

Eben weil diese Werte und Ziele auch mir eine Herzensangelegenheit sind, bin auch ich ein Paritäter und versuche, meinen Teil zum Gelingem beizutragen.

So stehe ich heute im Namen des Aufsichtsrates hier und gratuliere ganz herzlich zu diesem Jubiläum und wünsche Ihnen, wünsche uns allen alles erdenklich Gute für eine gedeihliche Weiterentwicklung unseres Verbandes. Denn wir brauchen den Paritätischen mit seinen Aktivitäten, seinen Angeboten, seinen Strukturen, vor allem aber seinen Werten so dringend, wie lange nicht mehr.

Herzlichen Glückwunsch!

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